Erstellt am: 4. 2. 2012 - 11:42 Uhr
11/22/63
"I haven't fucked much with the past, but i've fucked plenty with the future"
(Patti Smith - "Babelogue")
Dallas, 22. November 1963. Eine Wagenkolonne biegt Richtung Dealey Plaza ab. An den Ort, an dem US-Präsident John F. Kennedy seine Wahlkampfrede halten soll. Die Geschichte lehrt uns: Kennedy wird dort nicht lebend ankommen. Es ist 12:30. Es fallen gleich mehrere Schüsse: Der erste trifft Kennedy mitten durch den Hals. Da der Präsident ein Korsett trägt, bleibt er aufrecht sitzen und kann sich nicht ducken. Ein zweiter Schuss trifft ihn direkt in den Kopf, dessen rechte Hälfte explodiert. Bilder, die um die Welt gehen und bis heute schockieren.
Hodder and Stoughton
Als mutmaßlicher Täter wird Lee Harvey Oswald verhaftet, zwei Tage nach Kennedys Ermordung wird Oswald vor laufender Kamera erschossen. Ein Akt der Selbstjustiz, der aber die amerikanische Nation auch Jahrzehnte nach dem Attentat an Kennedy nicht vor tiefen Narben bewahren konnte. Verschwörungstheorien sind Teil der Aufarbeitung, eine jüngere Generation kennt den Fall Kennedy überhaupt nur durch Oliver Stones "JFK". Was für sie 9/11 ist, ist für die ältere Generation 11/22/63.
The Butterfly Effect
Heyne
Derry, Oktober 1958. Frank Dunning lebt von seiner Frau und seinen vier Kindern getrennt. Im Alkoholrausch will er Rache dafür nehmen, dass die Scheidung ins Haus steht: Der Familienvater ermordet seine Frau und drei seiner Kinder mit einer Axt. Das vierte, Harry, lässt er schwer traumatisiert zurück. Harry wird nie wieder zu sich selbst finden. Es soll auch mehr als fünfzig Jahre dauern, bis dieser Harry Dunning seinen Highschool-Abschluss nachholen wird. In seiner Abschlussarbeit schreibt er in gebrochenem Englisch von dem schicksalshaften Abend im Oktober 1958, aber so berührend, dass sein Lehrer Jake Epping im Jahr 2011 in Tränen ausbricht und sich wünscht, den kleinen Harry und seine Familie zu retten.
Und hier kommt das Loch im Raum- und Zeitkontinuum ins Spiel, das der einsame Lehrer in Al's Diner entdeckt. Al, der Besitzer, hat die Treppe in seiner Vorratskammer selbst erprobt, wie durch ein Wunder führt sie ausgerechnet zurück in die Vergangenheit, allerdings immer an den selben Tag: den 9. September 1958. Und hier eröffnen sich dann doch einige Möglichkeiten: September ist vor Oktober, Jake könnte das Schicksal der Familie Dunning also verhindern. Mit dem Wissen der Zukunft ließen sich so manche Dinge ändern, einige scheitern aber schlicht an ihrer Unmöglichkeit: die Weltkriege sind etwa schon lange vorbei und um den Einsturz der Twin Towers zu verhindern, müsste Jake fast fünfzig Jahre in der Vergangenheit abwarten. 2001 wäre er dann vermutlich schon alt und gebrechlich oder gar tot.
Einen Tag könnte er allerdings erleben: die Ermordung Kennedys. Dafür müsste er fünf Jahre in der Vergangenheit leben, möglichst wenige soziale Kontakte pflegen und einen gewissen Lee Harvey Oswald beobachten, um herauszufinden, ob er der Mörder Kennedys ist und falls ja, ihn an der Tat zu hindern. Das würde die Zukunft dank des Schmetterlingeffekts maßgeblich ändern. Doch zu diesem Zeitpunkt weiß Jake noch nicht, dass die Vergangenheit sich nicht gern in die Suppe spucken lässt.
An American Chronicle
Stephen King ist ein Meister des Erzählens. Einer, der seinen Charakteren Leben einhaucht, sie mit Fehlern bestückt, sie undurchsichtig und allzu menschlich zeichnet. Ich kenne keinen Autor der Gegenwart, der so präzise und einfühlsam zum Geschichtenerzähler wird, sich nicht hinter sprachlichen Kunstgriffen versteckt, sondern den dramaturgischen Aufbau einer Erzählung aus dem Handärmel schüttelt und dabei auch noch ein breites Publikum zum Lesen bringt. Dies ist - wohlgemerkt - nicht immer von Vorteil gewesen. Denn während King in den letzten rund vierzig Jahren zum Bestseller-Autor avancierte, hat ihn die Kritik als "Horror-Autor" belächelt und nie wirklich ernstgenommen.
Mit "Der Anschlag" (im Original "11/22/63") ändert sich diese Sichtweise radikal. Kings neuestes Buch wendet sich vom Horror ab, eine Richtung, die King-Fans schon bei seinen letzten Büchern bemerken. Die Zeit des mordenden Pennywise aus "It" sind längst vorbei. King mag es zwar immer noch übernatürlich (Stichwort: Zeitreise), aber seine Themen sind schon seit längerem poetischer, ruhiger, weniger auf Sensation und Schrecken ausgerichtet. Im Feuilleton arbeiten aber nie die Schnellsten: Die "New York Times" wählte "11/22/63" in ihre Liste der besten Bücher 2011, die FAZ und die heimische Presse preisen King fast schon heuchlerisch als "großen Chronisten der amerikanischen Geschichte".
dpa
Weitere Leseempfehlungen:
Tatsache ist, dass King in "Der Anschlag" das tut, was er immer getan hat: eine gute Geschichte erzählen. Das Buch ist eine Hommage an die 50er und 60er und ergänzt auf diese Weise eine Rückwärtsgewandheit, eine nostalgische Sehnsucht nach der Vergangenheit, die man von TV-Serien wie "Mad Men" oder Woody Allens "Midnight in Paris" kennt. Immer wieder wird die Geschichte mit Beschreibungen der Zeit angereichert, man hört "Mr. Sandman" von The Chordettes im Hintergrund, Rock 'n Roll macht sich gerade erst daran, die Kinder zu verderben. Aber ähnlich wie in "Mad Men" brodelt es unter der Oberfläche, die "gute alte Zeit" ist auch nur ein Mythos, den King geschickt und an vielen Stellen gefühlvoll aufdröselt.
Mit "Der Anschlag" legt Stephen King sein Alterswerk vor. Bei seiner Veröffentlichungswut wird es aber nicht das einzige bleiben, noch dieses Jahr folgt der 8. Teil des "Dunklen Turms". Und wer denkt, dass es mit dem Horror vorbei ist, der irrt ebenfalls. Nicht umsonst führt das Zeitloch ausgerechnet in eine Kleinstadt namens Derry, wo ein böser Clown in einem anderen King-Buch manchmal kleine Kinder in den Untergrund zerrt.