Erstellt am: 27. 1. 2012 - 13:17 Uhr
History must be told from the low
reprodukt
Igort: "Berichte aus der Ukraine". Aus dem Italienischen von Giovanni Peduto. Handlettering von Céline Merrien, Reprodukt 2011
Eigentlich wollte der italienische Zeichner Igort ein Buch über Tschechow zeichnen und zog für zwei Jahre in die Ukraine. Aber dort fiel ihm bald eine Art Schmerz auf, unter dem die BewohnerInnen leiden. Irgendetwas schien sie zu bedrücken, aber auch im Elend ertrugen sie den Schmerz mit einer unbeschreiblichen Würde, erinnert sich Igort. Er wollte den Ursprung dieses Schmerzes finden und hat gemeinsam mit seiner Freundin wildfremde Leute auf der Straße nach ihrer Vergangenheit befragt. "Little by little I realized I was very often speaking to the survivors of a holocaust."
So erfuhr er vom Holodomor, der "Tötung durch Hunger" oder "Hungersmord". Das Wort ist erst in den 80er Jahren nach der Unabhängigkeit der Ukraine geprägt worden, um die von Stalin organisierte, kaum bekannte Hungerkatastrophe von 1932 bis 1933 zu bennenen, die in der Ukraine mehrere Millionen Tote gefordert hat. Über den Holodomor durfte in der Ukraine 60 Jahre lang nicht gesprochen werden. "You could be put in prison or be departured immediately if you would have just mentioned what you could see in the street and tell what you have experienced before."
Nach wie vor können viele Leute nicht darüber reden und nur mit viel Geduld hat Igort Interviewpartner gefunden, die ihre Lebensgeschichten erzählten, Geschichten, die unsere Vorstellungskraft übersteigen. So erinnern sich die Zeitzeugen an eine Kindheit, in der sie kraftlos im Wald Wurzeln gesucht, verhungerte Nachbarn gesehen haben oder nicht mehr allein aus dem Haus durften, weil Kinder immer häufiger verschleppt, ermordet und wohl auch gegessen wurden. Igort baut in seinen Sachcomic auch Auszüge aus Berichten und Notizen aus der damaligen Zeit ein.
"Vom 9. Januar bis 12. März haben wir in der Region Kiew 69 Fälle von Kannibalismus und 54 Fälle von Nekrophagie registriert. Die Dunkelziffer ist vermutlich viel höher, da unser Geheimdienst nicht alle Fälle erfassen kann." Nekrophagen sind Aasfresser. Leute haben also verendete Tiere häufig wieder ausgegraben und gegessen – mit verheerenden Folgen.
Neben diesen Auszügen und erklärenden Einschüben porträtiert Igort vier Personen. Das ausführlichste ist Nikolai Wassiljew gewidmet. Igort sieht ihn auf einem Markt, wo er seine Habseligkeiten verkauft. Erst habe er nicht mit ihnen sprechen wollen, aber dann habe er zu erzählen begonnen und währenddessen gezittert, geweint und geschrieen.
Nikolai erzählt von seiner harten Kindheit, der hart arbeitenden alleinerziehenden Mutter, den Nazis. Dann reihen sich die Schicksalsschläge aneinander, Nikolai verliert Haus und Hof, wird gelähmt, kann nicht mehr sprechen, siecht dahin und kommt doch wieder zu Kräften, um nach weiteren Schicksalsschlägen sein Hab und Gut auf einem Markt zu verkaufen. "He was selling his last most loved objects of his house – he was preparing himself to die." Nach dem Interview sei Nikolai nie mehr gesehen worden.
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Igort schafft auf 180 Seiten ein eindrucksvolles Zeitdokument, eine oral history – gezeichnet in melancholischen Rot- und Brauntönen und erzählt von ganz einfachen normalen Leuten. "I think history must be told from the low. From everyone of us and not talking about heroes."
Vielleicht bietet die Fußball-Europameisterschaft die Möglichkeit, sich an die Geschichte der Ukraine zu erinnern und damit neue Perspektiven für die Zukunft zu schaffen.