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Hanna Silbermayr

Lateinamerika, Migration, Grenzen und globale Ungleichheiten

5. 2. 2012 - 10:47

Verlorene Städte - Illegal im eigenen Land

Täglich werden bis zu 400 Personen aus den USA nach Tijuana abgeschoben. Der amerikanische Traum endet für viele Mexikaner in einem schmutzigen Kanal.

Polizei. Alles geht blitzschnell. Schlagknüppel knallen auf nackte Haut. Auf der Ladefläche des Pick-ups drei Männer, sie werden die Nacht im Gefängnis verbringen. Ein Schatten springt aus dem Gebüsch. Hastig läuft er über die Schnellstraße, stößt beinahe mit einem LKW zusammen und verschwindet schließlich zwischen den schützenden Häuserschluchten.

Ein Mann schaut über den Grenzzaun zwischen den USA und Mexiko.

Hanna Silbermayr

Tijuana hat auch andere Seiten. Ein Stadt-Portrait.

„Es gibt so viele Vorurteile und keinen interessiert, was wirklich los ist.“ Der 28-jährige Juan Carlos scharrt mit den Füßen im staubigen Boden. Seine dunklen Augen wirken müde, die Kleidung ist schmutzig. „Wir sind keine Kriminellen“, fügt er leise hinzu. Autos rasen auf der Schnellstraße neben dem Kanal vorbei. Über die Brücke, die den Grenzübergang mit dem Stadtzentrum verbindet, marschieren unzählige Touristen. Tijuana. In den vergangenen Jahrzehnten verwandelte sich die mexikanische Stadt direkt an der Grenze zu den USA in eine traurige Berühmtheit: Der Drogenhandel, die Prostitution und die irreguläre Migration haben sie in aller Welt bekannt gemacht. Eigentlich kommt Juan Carlos aus dem Süden Mexikos, doch der amerikanische Traum hat ihn bis nach Tijuana gebracht.

Endstation Tijuana

Das Yearbook of Immigration Statistics (PDF) bietet einen detaillierten Überblick über die Einwanderungssituation in den USA. Auf Seite 103 des Berichts von 2010 kann die Zahl der abge- schobenen Mexikaner herausgelesen werden.

Ein weiterer Bericht (PDF) gibt Aufschluss über die Zahl irregulärer Migranten in den USA.

Schätzungen des U.S. Department of Homeland Security zufolge lebten 2010 über 6,6 Millionen Mexikaner in irregulärer Situation in den Vereinigten Staaten. Im selben Jahr wurden mehr als 282.000 davon des Landes verwiesen. In einem Bus werden sie an die Grenze zu Mexiko gebracht und durch ein einfaches Tor im Grenzzaun ins Nachbarland entlassen. „Jeden Tag werden bis zu 250 Personen nach Tijuana abgeschoben. In den vergangenen Jahren waren es mehr, ungefähr 400 pro Tag.“ Victor Clark Alfaro sitzt in seinem kleinen Büro direkt gegenüber des Gebäudes der Stadtverwaltung von Tijuana. Unzählige Anerkennungen schmücken die vergilbten Wände. Er ist Professor an der San Diego State University und Direktor des binationalen Zentrums für Menschenrechte in der mexikanischen Grenzstadt. „Die Menschen, die abgeschoben werden, haben keine Arbeit. Für viele ist in Tijuana Endstation. Das wird allmählich zu einem sozialen Problem“, glaubt er.

Der Speisesaal der Herberge für Migranten in Tijuana.

Hanna Silbermayr

Nur schwach beleuchtet das Deckenlicht den Speisesaal. In der kleinen Küche füllen freiwillige Helfer Schüsseln mit Essen. Dunkle Gestalten sitzen an den Tischen und schlürfen Bohnenmus. „Die finanziellen Mittel unserer Organisation sind stark limitiert. Darum können wir nur während der ersten zwei Wochen nach der Abschiebung einen Schlafplatz, Duschen und warmes Essen anbieten“, erklärt Ofelia Gress de Vargas. Die zierliche Frau leitet eine Herberge für Migranten, die von der Heilsarmee finanziert wird. Für gewöhnlich nimmt sich anfangs die mexikanische Einwanderungsbehörde der Abgeschobenen an und stellt erste Informationen zur Verfügung. Von den "Deportees" wird erwartet, dass sie sich Arbeit suchen oder in ihren ursprünglichen Herkunftsort in Mexiko zurückkehren. Doch in Zeiten der Wirtschaftskrise gestaltet sich all das relativ schwierig. „In dieser Stadt gibt es 50.000 Arbeitslose. Es ist momentan äußerst kompliziert, Arbeit zu finden“, macht Victor Clark Alfaro die Problematik deutlich. Darum landen viele der Abgeschobenen nach Ablauf der ersten zwei Wochen mittellos auf der Straße.

Verlorene Städte

Die Sonne wirft ein Glitzern auf das wenige Wasser im Kanal. Still zieht es quer durch die Stadt. Vor vierzig Jahren konnte sich das Wasser noch frei durch Tijuana schlängeln. Mitte der 70er Jahre wurde es dann in eine breite Beton-Wanne gepfercht, die heute das Stadtbild prägt. „Im Kanal leben ungefähr 1.000 Menschen. Wieviele es aber wirklich sind, weiß man nicht so genau. Manchmal sind es mehr, manchmal weniger.“ Victor Clark Alfaro hat die Bewohner des Kanals besucht. Einer Sache ist er sich gewiss: „Dort unten befinden sich verlorene Städte. Wenn die Menschen in Tijuana davon wüssten, wäre das ein großer Skandal.“

Ein Mann putzt im schmutzigen Kanalwasser in Tijuana seine Hose.

Hanna Silbermayr

„Die mexikanische Polizei ist schlimmer als die US-amerikanische, sie jagen uns wie Verrückte.“ Der 25-jährige Gerardo ist dabei, seine wenigen Habseligkeiten zusammenzusammeln. Ein paar Stunden zuvor war eine Patrouille in den Kanal gekommen und hat die Menschen, die dort leben, festgenommen. Gerardo konnte gerade noch über die Schnellstraße entkommen. „Sie fragen uns nicht, wie wir heißen. Und wenn wir Geld oder Dokumente vorweisen, nehmen sie uns diese einfach weg. Sie schlagen uns mit ihren Stöcken und werfen Essen und Medikamente in den Kanal.“

Gerardo hat zuvor einige Jahre als irregulärer Migrant in den USA verbracht. Dann wurde er abgeschoben. Die Korruption der mexikanischen Polizei ist allgemein bekannt. Immer wieder klagen Menschenrechtsaktivisten die Missstände an. Die Abgeschobenen werden zumeist ohne klare Gründe festgenommen. Sie werden einem Richter vorgeführt, der die Höhe der Strafe festlegt. Bis zu 36 Stunden verbringen sie danach in Polizeigewahrsam.

„Diese Menschen werden von Polizei und Justiz regelrecht zu Illegalen und Gejagten im eigenen Land gemacht“, erklärt Viktor Clark Alfaro. In einem Bericht vom Juli 2008 beschreibt er 187 Fälle von polizeilichem Fehlverhalten, die ihm während des Zeitraums von August 2007 bis April 2008 gemeldet wurden. Doch die meisten Fälle kommen aus Angst vor einem noch härteren Vorgehen der Polizei erst gar nicht zur Anzeige. Diese argumentiert ihr Vorgehen als Präventionsmaßnahme zur Bekämpfung der Kriminalität. Viele der Migranten, die im Kanal leben, würden Diebstähle begehen und auf der Straße herumlungern, bekräftigt auch Aurelio Martinez Paz, Vize-Chef der Polizei von Tijuana. Juan Carlos schiebt das Hosenbein bis zum Knie hoch. Ein blauer Fleck. Er schaffte es nicht, sich schnell genug vor der Polizei in Sicherheit zu bringen. Tränen steigen ihm in die Augen. „Niemand kommt zu uns und fragt, warum wir auf der Straße leben. Ich habe nichts Schlimmes getan.“

Ein abgeschobener Mexikaner, der im Kanal von Tijuana lebt, zeigt einen blauen Fleck am Bein.

Hanna Silbermayr

Zwischen Drogensucht und amerikanischem Traum

Auf dem Schreibtisch stapeln sich Bücher und Zeitschriften. Victor Clark Alfaro wirkt dahinter beinahe verloren. „Man darf sich aber auch nichts vormachen“, murmelt er, „es leben auch Kriminelle im Kanal“. Es gibt unzählige Gründe, warum jemand aus den USA abgeschoben wird. In den meisten Fällen handelt es sich um Kavaliersdelikte, wie etwa Vergehen im Straßenverkehr. Diejenigen, die größerer Verbrechen angeklagt wurden, sitzen ihre Haftstrafe für gewöhnlich in einem US-amerikanischen Gefängnis ab, bevor sie nach Mexiko abgeschoben werden. „Im Kanal leben ehemalige Häftlinge und Banden-Mitglieder, aber auch unbescholtene Menschen“, erklärt Victor Clark Alfaro.

Der Kanal ist ein rechtsfreier Raum, der Stärkere gewinnt. Darum finden sich viele der Menschen dort in Gruppen zusammen, um sich selbst zu schützen. Das Leben auf der Straße ist hart, viele kommen damit nicht klar, verfallen den Drogen. „Manche der Menschen, die man im Kanal sieht, leben nicht dort. Sie gehen dorthin, um Drogen zu verkaufen“, erklärt Victor Clark Alfaro. Viele der Abgeschobenen schnüffeln Klebstoff, andere Drogen können sie sich nicht leisten. Der Traum, in die USA zurückzukehren, hat sich mit der Zeit in einen nebeligen Rauschzustand im schmutzigen Kanal Tijuanas verwandelt.

Abgeschobene Mexikaner im Kanal von Tijuana.

Hanna Silbermayr

Auf arte.tv gibt es einen Dokumentarfilm von Gwen Le Gouil über die Menschen im Kanal: Die Deportierten von Tijuana.

Untertags versuchen sie Arbeit auf einem der Gemüse-Märkte zu finden oder putzen die Autos, die am Grenzübergang zu den USA warten. So verdienen sie ein paar Pesos, um sich Essen zu kaufen oder ihre Abhängigkeit zu finanzieren. Auf politischer Ebene versucht man inzwischen eine Lösung für die Menschen im Kanal zu finden. „Man will ihnen Arbeit anbieten und sie so von der Straße wegholen“, weiß Victor Clark Alfaro zu berichten. „Das Problem ist aber, dass jeden Tag unzählige Personen nach Tijuana abgeschoben werden und so auch ständig neue Menschen im Kanal ankommen. Ich weiß nicht, ob man die gesamte Problematik so wird lösen können.“

Juan Carlos und Gerardo wollen das Leben auf der Straße jedenfalls hinter sich lassen. Sie halten sich fern von Drogen und Alkohol. Juan Carlos sagt, dass er, wenn er es nicht bald über die Grenze in die USA schafft, in seine Heimatstadt in Südmexiko zurückkehren wird. „Dort ist das Leben immer noch besser als in Tijuana“, ist er sich sicher.