Erstellt am: 23. 1. 2012 - 15:21 Uhr
Durch die Wüste taumeln
Wenn in einer John-Grisham-Verfilmung am Ende ein Morgan-Freeman- oder Gene-Hackmann-hafter Schauspieler alle im Film stattfindenden oder auch nicht stattfindenden Zusammenhänge und Verstrickungen nacherzählt und Lösungen herbeierläutert - wo die Atomraketen sind, mit welch trickreichem Spezialprogramm der Hacker den Waffendeals zwischen Pentagon und KGB auf die Schliche gekommen ist und warum der väterliche Mentor der Hauptfigur eigentlich der Böse ist, stellt das eine dröge Selbsterfüllung dar, die versucht smart zu sein, dabei doch nur an den Haaren herbeigezerrt ist - und egal. Hier regiert der Wunsch, das Leben formatiert zu bekommen, hier weht nicht das Parfum des Geheimnisvollen. Endgültig, abgeschlossen, Akte zu.
Wolfgang Herrndorf
Wolfgang Herrndorf hat mit seinem gerade noch aktuellen Roman, der zwar schon Ende 2011 erschienen ist, uns hier aber ein bisschen durch die Finger gerieselt ist, ein Buch geschrieben, das zwar vor Spannung strotzt, dabei aber auch als Kommentar zur Abenteuer - und Agenten-Erzählung gelesen werden kann. Der 1965 in Hamburg geborene Herrndorf, der assoziationsmäßig immer auch ein wenig im Dunstkreis der Berliner Zentralen Intelligenz Agentur werkt, ist spätestens 2010 mit dem Erfolg von "Tschick", seinem "Jugendroman" für so ziemlich alle Altersklassen, zum vielbesprochenen und -gelesenen Autor geworden – dabei wollen auch wir den feinen Erzählband "Diesseits des Van-Allen-Gürtels" von 2007 nicht vergessen. In "Sand" lässt er die Mechanismen eines guten Thrillers arbeiten und sieht ihnen dabei zu.
"Auf der Lehmziegelmauer stand ein Mann mit nacktem Oberkörper und seitlich ausgestreckten Armen, wie gekreuzigt. Er hatte einen verrosteten Schraubenschlüssel in der einen Hand und einen blauen Plastikkanister in der anderen. Sein Blick fiel über Zelte und Baracken, Müllberge und Plastikplanen und die endlose Wüste hinweg auf einen Punkt am Horizont, über dem in Kürze die Sonne aufgehen musste.
...Die östlichen Wände der Baracken flammten hellorange auf. Der hohle, schleppende Rhythmus sank in die blei-grauen Gassen hinab. In Kuhlen und Gräben wie Mumien liegende verschleierte Gestalten erwachten, rissige Lippen formten Worte zu Lob und Preis des alleinigen Gottes. Drei Hunde tauchten ihre Zungen in eine schlammige Pfütze. Die ganze Nacht über war die Temperatur nicht unter 30 Grad gesunken. "
Nordafrika 1972, in der Sahara passieren seltsame Dinge: In einer Kommune, in der europäische und nordamerikanische rich kids Hippietum und das wilde andere Leben ausprobieren wollen, werden vier Menschen ermordet, ein Bast-Koffer voller Geld geht verloren, ein kaum heldenhafter Kommissar versucht einen Fall aufzuklären, der nach zahllosen Zeugenaussagen längst als geschlossen abgeheftet worden ist. Eine sehr blonde Amerikanerin erscheint im Auftrag eines Kosmetik-Konzerns samt Muster-Köfferchen am Hafen, ein Mann, der wohl "Spion" oder "Agent" sein mag, irrt zwischen baufälligen Hütten umher, ein Mann erwacht mit halbzertrümmertem Schädel, dafür ohne Gedächtnis. Wolfgang Herrndorf entwirft in "Sand" ein Geflecht aus Figuren, Nebenfiguren und Handlungssträngen, die allesamt einem Kriminal-Roman, möglicherweise aus der Bahnhofsbuchhandlung, entlehnt wirken.
Spuren im Sand
Ein gutes Drittel des Buches lang lässt "Sand" die Leser - im besten Sinne - in der Luft hängen: Herrndorf führt neue und neue Personen und Schauplätze in der Wüste ein, ohne dass man gleich mitbekommen muss, wohin die Geschichte treibt. Während ausländische Intellektuelle und Schriftsteller-Darsteller in ihren Villen draußen vor der Stadt gediegen dekadente Feste inklusive Lustknaben in gelben Sportshorts feiern, wird in behelfsmäßig eingerichteten Schulen den Straßenkindern Lesen und Schreiben beigebracht, ölige Beamte bringen ihren hart erarbeiteten Sold - Kategorien wie "Korruption" haben innerhalb eines einzigen Systems aus Nebenher-Geschäften und Freundschaftsdiensten nur noch vage Bedeutung - im Rotlichtviertel durch.
Ein Plot entspinnt sich nur langsam - was dem Roman eine außerordentliche Verve von schmackhafter Zähflüssigkeit verleiht. Nach und nach kristallisiert sich der Mann, der seine Identität nicht kennt, als Hauptfigur heraus. Wir folgen ihm auf seiner Suche, dem linkischen Helden eines Hitchcock-Films gleich, taumelt er ahnungslos durch die Glut der Wüste, hin und hergeworfen zwischen ihm übelmeinenden Kräften, deren Absichten sich ihm nicht erschließen.
Rowohlt
Auch wenn "Sand" an der Oberfläche den Mustern eines Thrillers folgt, handelt der Roman nicht zuvorderst vom überraschenden Twist und der wasserdichten Aufklärung aller Rätsel. Vielmehr geht es um die Abbildung eines vielstimmigen Panoramas, das in seinem Ton bei aller Spannung auch einen anderswo oft gleichermaßen falsch romantisierend wie imperialistisch auf Afrika geworfenen Blick entlarvt. "Sand" erzählt davon, wie Menschen agieren und leben, wenn die Umstände widrig sind. Der Regen fällt auf die Gerechten genau wie auf die Ungerechten. Hier ist es die Sonne, die für alle gleich brennt.
"Er spürte, dass er bis zu diesem Moment geglaubt hatte, unsterblich zu sein. Er schlang sich die Kette um den Hals. Er drückte das Gesicht in den Schlamm. Er schlug die Stirn gegen die Eisenstange. Mit einem Schrei tauchte er wieder auf. Er schrie den Namen, der ihm schon die ganze Zeit auf der Zunge gelegen hatte. Jetzt hallte er von den Wänden wieder ins Nichts."