Erstellt am: 20. 1. 2012 - 14:17 Uhr
Draußen leben ist nicht richtig
Aussteigen ist doch keine Option. Wenn man beim Gruppensex dann zum Einzeller erklärt wird oder im Irgendwo des australischen Hinterlandes für TouristInnen in einer Blasmusikkapelle aufmarschiert. Lieber nicht. "Empire Me" vom österreichischen Regisseur Paul Poet versucht sich als dokumentarisches Roadmovie daran, Freiheit zu fassen.
500 selbsterklärte Mikrostaaten gäbe es weltweit, erklärt Poet zu Beginn des Films. Sechs dieser "Gegenwelten" besucht Poet in seiner Dokumentation. Doch bei der Suche nach gelebter Unabhängigkeit kommt die Aufmerksamkeit für den Alltag schnell abhanden. Die Utopien in "Empire Me" sind flüchtige Bilder bizarrer Auswüchse. Lieber nicht zu genau hinsehen. Schnell könnte sich die neue Welt als alles Andere als Eutopia herausstellen.
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Paul Poet hat Christoph Schlingensiefs Container-Projekt "Ausländer raus!" 2000 vom ersten bis zum letzten Tag mit der Kamera festgehalten und zu einem Film gemacht. Nun folgt er dem Wagnis von Menschen, sich aus der Zugehörigkeit von Nationalstaaten auszuklinken und sich selbst zu ermächtigen. Vom heruntergekommenen Familienfürstentum "Sealand" bis nach Christiania ist einigen schon fad im Hirn und der Sinn abhanden gekommen.
Im Video zu Bunny Lakes "Follow The Sun" feiert Poet mit Material aus "Empire Me" den Eskapismus. Im Langfilm überwiegt eine abgeklärte Grundstimmung. "Es gibt nur die Würde, ganz bei sich zu sein", zieht Paul Poet sein Resümee. Auf der filmischen Erkundung in einer Stunde vierzig Minuten realisiert man schnell, was sich mit dieser Würde nicht mehr vereinbaren ließe.
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Manipulier' mich!
"Ich hatte ein esoterisches Disneyland gefunden", sagt eine Amerikanerin über die "Föderation" Damanhur in Norditalien. Über einen Holzsteg etliche Meter über dem Waldboden lässt sie sich in ihr neues Zimmer in ein Baumhaus führen. Eine Versuchsgruppe lebe hier. Führung ist die Freiheit für die Mitglieder von Damanhur. Den "Leader" Falco macht ein Insert in einer Massenszene aus: Zum Gruppenfoto nehmen Hunderte Aufstellung. Das Wort Sekte fällt nicht, es drängt sich auf. Die unterirdischen Tempelanlagen mit ästhetisch doppelt schrecklichen Malereien liegen dreißig Meter unter der Erde. Beim Tempeltanz sucht man als ZuschauerIn unbewusst nach einem grünen Licht, aber ein Notausgang lässt sich nicht auszumachen.
In den üppig grünen Wäldern hören Menschengruppen zu, wenn zwei ihr elektronisches Equipment an Topfblumen schließen, um Zyklamen zum Tönen zu bringen. Zur Behandlung legt sich eine Frau im Bikini unter eine wirre Maschinenkonstruktion, deren Lämpchen bunt und aufgeregt blinken. Auf der filmischen Reise wünscht man kurz, statt Damanhur doch Delmenhorst zu besuchen.
Der Fantasiekosmos Damanhur existiert jedoch real seit drei Jahrzehnten. Das Angebot an Astralreisen, Alienforschung und Erkundungen früherer Leben ist reich. "Spirituelle Physik" inklusive. Poets Hinweis, dass in Damanhur Menschen wie Tiere und Pflanzen heißen, ist zaghaft.
"Freiheit, die braucht Disziplin", kommentiert der Regisseur. Zwischen den einzelnen Schauplätzen stellt Poet als Stimme aus dem Off Überlegungen mit vielen Gedankenstrichen an. Poetisch könnte man das nennen. Ganze Sätze zu bilden wäre aber auch nicht zu verachten.
Das neu aufgenommene Damanhur-Mitglied stiefelt im Minikleidchen ins Baumhaus. Wo steht die Waschmaschine? Wieviel zahlt sie pro Tag? Oder wird sie beim Einzug zur Leibeigenen? Das Kleingedruckte interessiert Paul Poet nicht. Den Lonely Planet zu Mikrostaaten hat er zuhause gelassen. Die Eindrücke driften vorüber. Vieles ist in einem maroden Zustand. Anleitungen und Vorbilder für neue Systeme werden sich an diesen Orten nicht erschließen. Das stellt Poet schnell klar.
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Sehnsüchte entladen
"Empire Me" wartet nicht mit großen Plänen für die Zukunft auf. Der Wunsch, andere Formen des Zusammenlebens zu finden, sitzt jedoch tief in den wenigen ProtagonistInnen, die ihre Ansichten teilen. In den porträtierten Mikrostaaten hat sich hingegen längst der Trott eingeschlichen.
Über das, was die Föderation Damanhur in ihrem Innersten zusammenhält, will man nach dem Besuch besser nicht spekulieren, sondern recherchieren. Im Vergleich dazu präsentiert sich das deutsche "ZeGG" achtzig Kilometer von Berlin geradezu befreiend. Der selbsterklärte "Staat der befreiten Liebe" bietet Therapie, Sex und Öko-Essen, bevorzugt in Großgruppen.
"Ich stehe sexuell mittlerweile so unter Druck", sagt eine junge Frau und tritt im Kreis einer Therapiegruppe nach vorn. "Ich habe immer nur fast Sex. Immer nur fast". Es ist eine der stärksten Szenen. Freiheit überfordert erst mal. Die Versprechung von zwanglosem Sex offenbart sich in den Liebeshütten im Wald als neue Spießigkeit. Auf Kommando wie beim Yoga-Kurs beginnen nackte Menschen einander zu streicheln. In der "großen Ursuppe" des "Group happening with oil as material" kommen auch nicht alle zusammen.
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Selbstermächtigung gefällig? Da findet sich schon wer.
"Empire Me" ist ein kluger Titel. Das Abenteuer Selbstermächtigung scheitert am Neuland. Am Ende übernehmen andere die Ermächtigung. Auf seiner letzten Station nähert sich der Film einer Eigenverantwortung. AmerikanerInnen stechen mit ihren "Schwimmenden Städten von Serenissima" auf der Adria in See: Mit ihren aus Schrott und diverser Gerätschaft selbst zusammengeschweißten Flossen mit Antrieb steuern sie erstmals auf das offene Meer hinaus. Venedig bei Sonnenaufgang ist ihr Ziel.
"Empire Me - Der Staat bin ich" von Paul Poet läuft seit 19. Jänner in den österreichischen Kinos.
"Chicken John", der Chefkonstrukteur, verfolgt den Anspruch, alles selbermachen zu können. Wenn die Finanzwelt auseinanderbricht und die Lichter in Großstädten ausgehen, wird er sich zu helfen wissen. Der Kontrolleur von der slowenischen Hafenbehörde denkt sich seinen Teil. Wenn die aufgeweckte Truppe stilgerecht in Kapuzenpulli mit Piratenprint und im Matrosenanzug loslegt, überrumpelt Freiheit alle Gewolltheit. Das Abenteuer will es so: In Seenot geraten und von der Bora bedroht, sitzt eine Matrosin in Pippi-Langstrumpf-Strümpfen an ihrer alten Schreibmaschine und tippt den Tagesbericht: Das dringende Bedürfnis der Notdurft quäle sie. Aber das Schiff, das sei 360 Grad einsehbar.