Erstellt am: 20. 1. 2012 - 09:00 Uhr
ACTA wirft seine Schatten voraus
Der Stop Online Piracy Act (SOPA), der den Inhabern von Markennamen, Copyrights oder Patenten umfassende Zensurbefugnisse einräumen würde, liegt in den USA vorerst einmal auf Eis. Entgegen anderslautenden Berichten in vielen europäischen Breitenmedien wäre unter SOPA eben kein Gerichtsbeschluss nötig, um Websites vom Netz zu holen.
Marken- und Copyright-Inhaber wären vielmehr in der Lage, mit administrativen Verfügungen Websites blitzschnell und ohne Anhörung des Inhabers auf Ebene des Domain-Namenssystems zu "sperren". Genauso formlos, wie es die Regierung Barack Obama mit WikiLeaks vorexerziert hatte, inklusive einer sofortigen Blockade aller Finanztransaktionen.
Von SOPA zu ACTA
Dieser Ansatz, rechtsstaatliches Vorgehen abzukürzen und "kurzen Prozess" zu machen, indem gar kein Prozess stattfindet, ist für die Rechteinhaber - allesamt Großkonzerne - symptomatisch und gerade auch wieder іn Europa aktuell zu beobachten. Allerdings auf Ebene des Materiellen, während sich SOPA in erster Linie gegen die "Piraterie" von Musik und Filmen richtet.
Am Mittwoch wurden von der Wikipedia angefangen, weltweit zahlreiche populäre Websites als Protest gegen SOPA geschwärzt. Gewarnt wurde vor Zensurmaßnahmen durch Rechteinhaber, die SOPA auf Basis einstweiliger Verfügungen ermöglicht.
Das von den USA, Japan und mehreren europäischen Staaten vorangetriebene Antipiraterie-Abkommen ACTA hat im Dezember bereits den Ministerrat passiert und ist nun auf dem Weg ins Plenum des EU-Parlaments. Im Februar soll es dort erstmals diskutiert werden, damit wäre eine Verabschiedung im Mai möglich. Seine Schatten wirft dieses ebenfalls höchst umstrittene internationale Abkommen jedoch schon jetzt voraus.
"Piraterie"
Aktuell in Diskussion sind nämlich Maßnahmen zur "Durchsetzung geistiger Eigentumsrechte am Zoll" in Form einer Verordnung. Hiefür hat der Berichterstatter Jürgen Creutzmann (Liberale) einen Bericht verfasst, der vollständig in der Handschrift der Rechteinhaber gehalten ist.
Wie in den USA wird auch hier der Begriff "Piraterie" für ein Delikt verwendet, das mit bewaffneten Überfällen auf Schiffe und deren Kaperung nichts zu tun hat. Vor allem die in den Text bereits eingeflossenen Änderungsvorschläge der Abgeordneten Marielle Gallo (Konservative) haben es in sich.
"Binnenmarkt und Konsumentenschutz"
Gallo verfasste im Auftrag des Rechtsausschuss eine Stellungnahme zum Bericht, federführend ist aber der Binnenmarktausschuss (IMCO), mit vollem Namen "Binnenmarkt und Konsumentenschutz".
In Gallos Stellungnahme findet sich dann auch einleitend die Präambel, dass Endverbraucher, die in Zollformalitäten nicht so bewandert seien wie etwa Firmenimporteure, natürlich geschützt werden müssten. Daher hätten sie auch das Recht auf Anhörung, bevor eine für sie nachteilige Entscheidung am Zoll getroffen würde.
Am Samstag hatte sich das Weiße Haus von den geplanten SOPA-Internetsperren distanziert. Die Protestbewegung hat mächtige Unterstützer im Regierungslager: das Ministerium für Heimatschutz und den Supergeheimdienst NSA.
Einen Absatz weiter heißt es dann wörtlich: "Die Berichterstatterin unterstützt entschieden die Einführung eines spezifischen Prozedere zur Vernichtung von Gütern in kleinen Versandeinheiten". Darunter verstehen sich "weniger als drei Stück". Soviel zum Konsumentenschutz.
Stellungnahmen nicht gestattet
Und während es in der Einleitung Gallos noch heißt, "die Berichterstatterin ist nicht dafür, dass Parallelimporte unter die neue Regelung fallen sollten", steht in ihrem Änderunsgvorschlag zwei: "Um die Durchsetzung der geistigen Eigentumsrechte zu stärken, sollen die Zollkontrollen deshalb auch auf andere Arten von Verstößen ausgedehnt werden" nämlich solche, "die aus Parallelimporten entstehen."
Dabei handelt es sich um ordungsgemäß erworbene, echte Ware, die in einen Markt weiterverkauft wird, für den der Hersteller andere Marketingpläne hat.
In Amendment fünf besteht die Veränderung Gallos darin, dass dieser Halbsatz gestrichen wurde: "und eine Bestimmung einführen, die den Haltern der Güter das Recht auf Stellungnahme einräumt, bevor die Zollbehörden eine für sie nachteilige Entscheidung treffen."
Da der Webserver des EU-Parlaments am Donnerstag zwei Stunden nicht erreichbar war, werden die im Text zitierten Dokumente der Einfachheit halber hier zur Verfügung gestellt.
Weitere Streichungen
In Amendment sechs wurde eine Passage gestrichen, dass die Zolldeklaranten oder "Halter" das Güter - also Spediteure, selbst importierende Einzelhändler usw. - vom Zoll über den Status ihrer Waren erst nach Beschlagnahme bzw. Beschluss zur Vernichtung unterrichtet werden müssen.
Die Vorab-Informationspflicht wurde von Gallo ebenso annihiliert (Änderungen 15 und 17), wie eine Ausnahmebestimmung für verderbliche Güter (Amendment 19).
Einspruch, Vernichtung
Die Einspruchsfrist gegen eine bereits erfolgte Beschlagnahme von Gütern beziehungsweise deren bevorstehende Vernichtung wurde von 20 auf fünf respektive zehn Tage verkürzt.
Aus dem gesamten Schriftstück weht der Ungeist des jahrelang hinter verschlossenen Türen ausgehandelten ACTA-Abkommens, dessen frühe Fassungen sogar Durchsuchungen am Zoll von Laptops und anderen mitgeführten Datenträgern auf Urheberrechtsverstöße enthielten.
Die Genese des Acta-Abkommens in 118 Artikeln von futurezone.ORF.at.
Die ursprünglich vorgesehene Ausnahmeregelung für von Reisenden mitgeführtes Gepäck wurden ebenso gestrichen (Gallo Amendment 1, Recital 4), dafür kamen neue Verschärfungen hinzu.
Wenn Spediteure haften
Wird eine Beschlagnahme und/oder die Vernichtung der Güter beschlossen, ist zwar vorerst der Rechteinhaber, der diese Beschlagnahme ausgelöst hat, verpflichtet, die Kosten dafür auszulegen. Aber dann sieht der Entwurf dezidiert vor, dass sich Inhaber von Marken- und anderen Eigentumsrechten in dieser Reihenfolge schadlos halten können.
Ist der Rechtsverletzer, also der Produzent oder Verkäufer nicht greifbar, kann sich der Rechteinhaber am Adressaten der Ware schadlos halten. Kann der nicht zahlen, sollen nach Willen der Berichterstatter sogar Frächter und Spediteure schadenersatzpflichtig werden, so sie nicht nachweisen können, dass sie die Ware genauestens überprüft haben (Amendment 13, zu Recital 20).
67 Mal Vernichtung
Laufend ist von "schnellen und effizienten" Maßnahmen die Rede und während der Begriff "Vernichtung" 67 Mal auftaucht, kommt der (materielle) "Eigentümer der Güter" ("Owner") überhaupt nur zweimal vor, jeweils in Zusammenhang mit Haftungen für Schadenersatz. Der Begriff "Eigentum" ("property") findet sich hingegen 32 Mal - aber nur in der Kombination "intellectual property rights".
Um besonders "junge europäische Konsumenten zu kultivieren und erziehen", sollte im Zweifelsfall zwischen dem Grundrecht "auf Informationszugang und der Bekämpfung der Geißel Piraterie abgewogen" werden. So hieß es in einem früheren Bericht von MEP Marielle Gallo zur "Durchsetzung geistiger Eigentumsrechte im Binnenmarkt".
In der Praxis
Welche Konsequenzen sich daraus ergeben können, lässt sich an folgendem, durchaus realistischen Beispiel absehen. Apple und Samsung decken einander ja bekanntlich seit gut einem Jahr in allen großen Wirtschaftsräumen mit Klagen wegen Patent- und Urheberrechtsverletzungen ein.
Erst im August hatte Apple bei einem deutschen Gericht etwa die Verfügung erwirkt, dass der Tablet-PC Galaxy von Samsung in Europa nicht vertrieben werden durfte. Grund: Verstoß gegen das Copyright auf das Design des iPads.
Wer durch die Finger schaut
Gesetzt den alltäglichen Fall, drei österreichische Webshop-Betreiber tun sich zusammen und ordern einen ganzen Container dieser Tablets günstig und völlig legal bei einem Großhändler in Südkorea.
Dafür haben sie ein entsprechendes Depot bei einer südkoreanischen Bank hinterlegt. Als die Ladung jedoch im Gebiet der Europäischen Union eintrifft, ist dort eine einstweilige Verfügung gegen Samsung in Kraft und die Zollbeamten müssen erst einmal Apple informieren, dass "Pirateriegut" beschlagnahmt wurde.
Die drei Händler haben dann fünf Tage Zeit zur Stellungnahme, sodann läuft die Frist für die Vernichtung der Ware. Es ist wohl mehr als eindeutig, wer von allen Beteiligten in diesem Fall durch die Finger schauen wird.
Die UN-Seerechtskonvention
All das ist nur eine Momentaufnahme eines politischen Prozesses, der sich gerade erst in Brüssel entfaltet. Sie zeigt nur sehr deutlich, wie die Konzepte von Lobbyisten der Großkonzerne gestrickt sind und wie kaltschnäuzig die materiellen Eigentumsrechte von Konsumenten wie kleinen und mittelständischen Unternehmen gegenüber den "geistigen Eigentumsrechten" von internationalen Großkonzernen hintan gestellt werden.
Sinnigerweise hat Christian Engström, der erste Abgeordnete der Piratenpartei im EU-Parlament, mittlerweile ebenfalls Änderungsanträge vorgelegt. Unter einer ganzen Reihe von Änderungen und Streichungen sticht dieser Zusatz besonders hervor:
"Piratengut ('pirated goods') bedeutet, dass die Güter durch Akte von Piraterie gemäß der Definition von Artikel 101 ff. der Seerechts-Konvention der Vereinten Nationen angeeignet wurden." (Engström-Amendment 36 zu Recital 2, Punkt 6).