Erstellt am: 20. 1. 2012 - 10:48 Uhr
Rettung aus Hamburg
Ich habe mich immer Hamburg näher gefühlt, als dem großen, sagenumwobenen, hippen Berlin. Das hat sicher damit zu tun, dass mein Bruder über zwölf Jahre dort gelebt hat und ich ihn immer wieder mal besuchte. Er hat mir die Schönheit des Hafens gezeigt und mich mit der Faszination für die Kontainer-Verladung angesteckt. Er ist mit mir an den verwitterten Landungsbrücken vorbei geskatet, der Elbe entlang gelaufen und hat mich auch ins Nachtleben der schummrigen, gemütlichen Bars eingeführt.
So ein Besuch in der Hansestadt war oft mit Musik gekoppelt. An erster Stelle der Indie-Assoziationen stehen da bei mir Kettcar, die 2003 mit "Landungsbrücken raus" quasi eine Hymne geschaffen haben, nicht nur für ihre Heimatstadt, sondern auch für eine Szene, die schon damals lange ihren Rock-Schulabschluss in der Tasche gehabt hat.
Vom Schulhof in den Club...
Kurz nach der Jahrtausendwende fragte das Quintett mit ihrem Debüt noch "Du und wieviel von deinen Freunden", was ja ein bisschen an eine rotzig freche, übermütige Stänkerei am Schulhof erinnert. Das sich Auflehnen, das Anecken und das Geradlinige "raus mit der Sprache" zog sich schon damals durch die Songs, denen Songschreiber und Texter Markus Wiebusch mit seiner sonoren Stimme immer eine gehörige Portion Melancholie verabreichte.
Vom gern unterstellten Befindlichkeitspop waren Kettcar auch bei ihrem streckenweise leiserem, akustischerem Nachfolger "Von Spatzen und Tauben, Dächern und Händen" weit entfernt. Immer wieder werden zwar Liebesbeziehungen seziert und kleine Geschichten erzählt, die sich aus Alltagsbeobachtungen entspinnen, doch fehlt bei all dem nie die Politik anprangernde Faust, die bei zum Beispiel bei "Deiche" energisch auf den Tisch knallt. Und da blitzt schon durch, dass Kettcar auch unangenehme Fragen stellen wollen.
Die dritte Platte "Sylt" ist als logische Konsequenz ein Album geworden, das sagt "Wir sind nicht einverstanden", wie es Markus in vielen Interviews betont. Retrospektiv betrachtet war dieses laute, krachige und mit wundervollen Noisegitarren verzierte Werk ein weise Vorausschau auf das, was sechs Monate später durch die Pleite der Lehman Brothers ausgelöst und somit für alle transparent werden sollte.
Markus Wiebusch singt nämlich selbstreflektorisch von den mid ager, den Peter-Pan-Verantwortungsverweigerer, und eröffnet damit einen sozialkritischen Diskurs, der für mich seinen Höhepunkt in dem Song "Würde" erreicht. Darin wird das wirtschaftsliberale System infrage gestellt, indem Markus schon damals das Burn-Out Syndrom thematisiert. Vor allem die oft daraus resultierenden Scham, nicht mehr in diese Gesellschaft zu passen, nicht mehr zu funktionieren und schlussendlich zurück zu den Eltern ziehen zu müssen, als letzter Ausweg, sofern man so einen Rückzugsort überhaupt haben sollte.
Kettcar
Die untergründig brodelnde Stimmung, die sich langsam steigernde Gewissheit, dass es bald zu einem Crash kommen muss, all das haben Kettcar - ob nun bewusst oder unbewusst - auf "Sylt" umgesetzt.
Es wären nicht Kettcar, würden die fünf Hamburger Musiker für ihr viertes Album nicht erneut in den Boxring steigen. Der Kampf findet diesmal im Club statt, ohne Rücksicht auf ein paar Prellungen und Wunden. Schließlich geht es um die wichtigen Themen des Lebens.
...und wieder zurück in den Boxring
Die erste Single "Im Club" ist gleich mal ein Schlag in die Magengrube. Selbst wenn er musikalisch mit aller Raffinesse, die Kettcar in den letzten zehn Jahren sammeln konnten, recht sanft ausgeführt wird, so sitzt jedes einzelne Sprachbild. Es ist eine Aufforderung an all die Verlierer, die Gescheiterten, die blinden Propheten und trostlosen Helden, zum letzten gemeinsamen Tanz. Erst im Verlauf des Lieds kommt man dahinter, dass man selbst auch dazu gehört, wir alle, die unserem größten Verlust entgegen gehen, dem Verlust des Lebens. Das muss man erst einmal verdauen. Kettcar beenden diesen Song mit hymnischen Fanfaren, nicht zu dick aufgetragen und mit doch so viel Schwung und Lebensfreude, dass man sofort wieder ins Hier und Jetzt katapultiert wird.
Kettcar
Und so verhält es sich mit den meisten Stücken von "Zwischen den Runden", die diesmal zu gleichen Anteilen von Markus Wiebusch und Bassist Reimer Bustorff geschrieben wurden. Von der hauchdünnen Popluft, die das leise Stück "Schwebend" einsaugt, über die knallig rollende Abrechnung mit dem Kulturkapitalismus "Schrilles Buntes Hamburg" (dessen Refrain dann doch in der harmonischen Stille verhallt) bis zur melancholisch traurigen Rückschau "Zurück Aus Ohlsdorf" wird hier alles mit teils harten Bandagen verhandelt, was für Kettcar auch 2012 noch unerlässlich ist, um sich als Menschen weiterzuentwickeln.
Und dabei schafft es das deutsche Quintett mehr denn je, ihre raue Soundvergangenheit mit der schmeichelnden Akustik- und Streichergegenwart zu verbinden und die unter allem schlummernde Energie immer wieder ausbrechen zu lassen.
Andreas Hornoff
So werden uns Kettcar am FM4 Geburtstagsfest in der vermutlich eiskalten Arena mehrere herzerwärmende Momente schenken. Zum Beispiel bei dem erhellenden und großartigen Song "Rettung", wenn Markus zu locker flockigem Pop mit uns seine Erkenntnis teilt:
"Liebe ist nicht das, was man empfindet / Nicht nur das, was man fühlt / Nicht, was man voller Sehnsucht sucht / Liebe ist das, was man tut"
Und wie immer braucht es Zeit, bis diese Worte sickern. Lässt man sie erst einmal herein, so werden sie ein Teil von einem. Vielleicht sogar schon morgen Abend.