Erstellt am: 19. 1. 2012 - 10:53 Uhr
Der Logarithmus, wo ich mit muss
Drei Stunden in der Maske, eine Justin Bieber Frisur und ein Kapuzenpulli später ist aus dem 36-jährigen Christian Ulmen der 18-jährige Jonas geworden. In Interviews erwähnt Ulmen immer wieder besondere Icepacks, die er auf die Augen bekommen hat, von denen würd ich gern eine Lastwagenladung bestellen.
Schulleitung, Lehrer und Schüler sind natürlich eingeweiht, sechs Wochen lang mampft Ulmen Pausenbrote, versucht den Logarhitmus zu verstehen und übt im Turnunterricht den Hochsprung.
Ulmen macht für die Semi-Dokumentation "Jonas" das, was Gegenstand von zahlreichen Albträumen ist: Er kehrt in die Schule zurück und schafft dafür eine seiner zahmsten Kunstfiguren. Zwar ist der zweimalige Sitzenbleiber Jonas weder schüchtern noch auf den Mund gefallen, doch verglichen mit den sozialen Monstern, die Ulmen für das Format "Mein neuer Freund" erschaffen hat, ein Lämmchen. "Ich geb dir 2 Euro, wenn du zu Frau Herse "Guten Morgen, Frau Hersebrei" sagst, stiftet Ulmen einen Klassenkollegen an. Pennälerhumor, als würde gleich Hansi Kraus um die Ecke biegen und Theo Lingen das Bein stellen, oder mit einem anderen Plan, den Pauker in die Pfanne zu hauen.
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Kein Fremdschämen
Doch hier geht es ja auch nicht um Provokation oder das Heraufbeschwören unangenehmer Situationen. Und genau in dieser Zurücknahme liegt die Stärke des Films; in nur minimalen Nuancen weicht Ulmen als Schüler, der hier als Jonas eine letzte Chance auf den Realschulabschluss bekommt, von üblichen Verhaltensweisen ab. Bedankt sich nach dem Unterricht bei Lehrern und umarmt sie, manchmal ein bisschen zu lange. Dass er Menschen zur Weißglut, zur Verzweiflung und zur Aufgabe jeglicher Umgangsformen bringen kann, hat er oft und gut bewiesen. Der soziale Hulk in ihm, er tanzt diesmal nur Ballett. Und der freundliche Vollzeitpädagoge mit den langen Haaren muss dann doch kurz stutzen, wenn Jonas ihm 5000 Euro auf den Tisch legt, weil soviel würde ein Schüler dem Staat kosten oder wenn Jonas fragt, ob er wegen dem Pferdeschwanz oft gehänselt werde.
Jonas bringt auch die patente Ethiklehrerin dazu, sich mit ihm in einer Kirche über Gott zu unterhalten. Er wagt es, den düsteren Zukunftsprognosen eines Chemielehrers, für den es vom verhauten Test zu einer Zukunft als Hartz4-Empfänger ein Katzensprung ist, zu widersprechen. Und so entstehen winzige, temporäre Risse, nur kleine Irritationen. Weitab entfernt von den raffinierten, aber eben nur schwer zu ertragenden Blamagestinkbomben, die Ulmen in "Unter Ulmen" oder eben "Mein neuer Freund" in Situationen platzierte. Die Lehrer und die Schüler in "Jonas", sie alle spielen mit, sie spielen aber auch sich selbst und weil Ulmen immer genau weiß, wie ein Gespräch zu lenken ist und wo er reinpieksen muss, kommt es zu Einblicken, die es in einer gewöhnlichen Doku wohl nicht gegeben hätte.
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School of Rock statt Wallraff
"Jonas" funktioniert auch als Deeskalation des öffentlichen Bildes von Schülern und Schülerinnen, das stets nur anhand der hysterischen Eckpfeiler "Pisa-Misere" und "Komasaufen" diskutiert wird. Zwar ist die Paul Dessau Gesamtschule im Speckgürtel Berlins keine Problem-, aber auch keine Eliteschule. Eine "normale" Schule habe man für den Film gesucht und auch gefunden; dass es so was wie eine "normale" Schule gibt, hatte man ja aber beinahe schon vergessen. "Jonas" bringt eine kleine Korrektur oder zumindest Ergänzung zum ramponierten Schülerimage, ein aus Negativ-Schlagzeilen zusammengeflicktes Monster. Keine Prüfungs-, keine Schulangst, kein Mobbing. Diese Schule- bzw der Ausschnitt, den uns "Jonas" gewährt - ist ein relativ harmonisches Schulbiotop. Erschreckend ist, dass Mathelehrer immer noch aussehen wie Mathelehrer und auch die gleichen Witze machen, so Ulmen. In Interviews erwähnt er auch öfter die Schüler, die unter Druck stehen, die nicht Angst vor einem Test haben, sondern Angst vor dem Leben nach der Schule, das Damoklesschwert "Arbeitslosigkeit" stets spürbar. Diese Schüler kommen in "Jonas nicht vor und nicht zu Wort.
Ulmen geht es auch nicht um ein Gunther Wallraff artiges Durchleuchten eines Systems, sein Antrieb für dieses Projekt war sich einerseits den alten Schuldämonen zu stellen und zweitens die Schule als Schauplatz für Ulmen-Umtriebe abhaken zu können. Und so fegt lieber mit der Energie eines Jack Black aus "School of Rock" durch die Schule und will eine Band gründen. Abgekürzt aus Vornamen der Teilnehmenden hat die dann einen Namen, bei dem Detlev "Dee" Soost wahrscheinlich urneidig sein wird, dass ihm der nicht eingefallen ist: Jomax T to go. In your face, Preluders und Overground.
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Tweety!
Mit der Band will Jonas vorrangig die freundliche Frau Maschke beeindrucken, in die hat er sich verknallt, als sie das erste Mal in Slowmotion den Gang einherschritt. Die Sache mit Frau Maschke bringt den Film aus dem Gleichgewicht weil mit besagter Zeitlupe und Jonas weit aufgerissenen Augen zuviel Inszenierung in den Doku-Stil rüberschwappt, da kippt das kleine Stil-Experiment, da will der Film doch zusehr auf eine Pointe zulaufen, einen Geschichtsstrang in die ansonsten eher lose zusammengefügten Beobachtungen pressen.
"Jonas" läuft ab 20. Jänner 2012 in den österreichischen Kinos
"Jonas" ist ein eigentümliches Stil-Experiment, ein Kaleidoskop eines Schulalltags, gebrochen durch eine Kunstfigur. Für Ulmen war es eine Auseinandersetzung mit Schul-Traumata, fürs Publikum wird es eine Erinnerung an die Verwandlungs- und Improvisationsfähigkeit des suprigen Christian Ulmen. Ich wünsch mir jedenfalls seither eine Rückkehr von Tweety.