Erstellt am: 12. 1. 2012 - 18:58 Uhr
"Der Tunnel"
Es ist ein Ziegel geworden. 1093 Seiten stark ist Willam H. Gass' Roman "Der Tunnel", Produkt einer 26 Jahre langen Schreib- und 15-jährigen Übersetzungsgeschichte. Es ist schwere Kost, die uns Gass serviert. Nicht nur vom Gewicht her, auch formal und inhaltlich.
Ein NS-Forscher als Nazi
Sein Protagonist William Frederick Kohler ist Geschichts-Professor an einer großen Universität im mittleren Westen der USA. Sein Spezialgebiet ist der Nationalsozialismus, dessen Aufstieg er als Student an deutschen Universitäten in den 1930er Jahren selbst mitbekommen hatte. Er war bei den Novemberpogromen dabei, ist dann im Krieg mit der US-Armee nach Deutschland zurückgekommen und hat während der Nürnberger Prozesse als Sachverständiger gearbeitet.
Rowohlt Verlag
Im Anschluss daran ist sein erstes historisches Werk entstanden, die "Nürnberger Notizen", die ihm durch ihren sanften Umgang mit den NS-Verbrechern den Ruf als Nazi einbringen. Auch bei seinem neuen Werk werden die Kritiker wohl wieder "Nazi" schreien, doch neben Hass und Anfeindungen soll es ihm auch Ruhm einbringen. "Schuld und Unschuld in Hitlerdeutschland" soll es heißen, und es ist beinahe fertig.
Die Angst vor dem Fertigwerden
Der Inhalt des Buches wird nur angedeutet, aber die kontroversen Thesen, wegen derer sich die Verlage anstellen, scheinen durch die Zeilen durch. Juden wären bereitwillige Opfer gewesen und hätten die Deutschen geradezu animiert, ihnen Unrecht anzutun, und die Zuweisung von Schuld sei nur ein Propagandaerfolg der Siegermächte.
Alles, was Kohlers Lebenswerk noch fehlt, ist ein eitles Vorwort, doch gerade das will ihm nicht gelingen. Statt einer Einleitung in sein Werk bringt er einen assoziativen Gedankenstrom zu Papier, der nicht abreißen will. Doch die Prokrastination geht noch weiter. Kohler macht sich daran, heimlich einen Tunnel unter seinem Haus zu graben.
Buddeln in der Vergangenheit
Was er dabei aus der Erde holt, findet seinen Niederschlag in seinen Notizen: Der Hass auf seine Frau, der so groß ist, dass ihm ihre Ehe gar nicht lang genug dauern kann, um sich an ihr zu rächen. Der Hass auf seine Söhne, seine Arbeitskollegen, seine unfähigen Studenten und Studentinnen, selbst auf die, die ihm für bessere Noten sexuell entgegenkommen.
Kohler ist einer der widerlichsten Figuren, die man sich vorstellen kann, rassistisch, sexistisch, antisemitisch, triebgesteuert und auch körperlich abstoßend, doch Kohler legt frei, wie er zu dieser Person geworden ist.
Die Archäologie eines Nazis
Nicht Schicht für Schicht, sondern assoziativ und sprunghaft wechselt Kohler zwischen seinen Gedanken und Erinnerungen. Wir erfahren von seiner Kindheit in ärmlichen Verhältnissen, seinem bigotten und rassistischen Vater, der früh schwer erkrankt und seiner alkoholsüchtigen Mutter, die er beide in Krankenhäuser einliefern lässt, als er gerade einmal fünfzehn ist. Wir erfahren von seiner Zeit in Deutschland, wo ein brillianter Redner und Vordenker der NS-Ideologie zu seinem Idol wird. Kohler lässt sich auch über seine Ehe aus, die früh ins Unglück kippt, seine Affären mit Studentinnen und seine Kollegen, die vor ihm befördert werden.
Es ist ein Geschichte der Enttäuschungen, die Kohler hier vorbringt, ein Weg, der beim "Faschismus des Herzens" endet. Damals in Deutschland hätten sich alle diese Enttäuschten unter dem Hakenkreuz gesammelt, und sie selbst, nicht der Führer hätten ihre Macht ausgespielt. Kohler sieht ähnliches Potential für seine eigene Bewegung, die PDE, Partei der Enttäuschten.
In unzähligen Stellen reflektiert der Historiker Kohler auch über die Geschichtswissenschaft an sich und über Geschichtstheorien, über Fakten und "Wahrheit", und wie man letzte erzeugen könnte. "Historiker machen die Geschichte" und "Jeder will einen tröstlichen Mythos", diese Feststellungen und das Bekenntnis zur Manipulation lassen Kohler als einen unzuverlässigen Erzähler erscheinen.
Ein Roman als Konvolut
Die Sprache, die William Gass für die Monologe seiner Figur Kohler findet, ist dicht und sehr poetisch. Wortspiele ziehen sich durch den Text. "... schreiben heißt lügen ... auf der Lauer lügen ...". Gass sucht oft nach literarischen Figuren. Er integriert sowohl die obszönen Limericks eines Professorenkollegen Culps, als auch Gedichte von Rilke, den er besonders schätzt und sogar weiterspinnt.
Gass' amerikanischer Verlag hat vor kurzem seine Vorschläge zur typographischen Gestaltung des Buches herausgegeben
Die Beschreibungen Kohlers sind sehr genau und detailreich und strotzen nur so von Metaphern. Doch der Fließtext wird häufig gebrochen, durch Assoziationen und die Typographie. Unterschiedliche Schrift- und Druckarten wechseln sich ab mit Comicstrips, Phantasie-Emblemen für die Partei, Werbebotschaften, Flecken, Skizzen, den Schulnoten Hitlers oder den Nürnberger Rassegesetzen. Auf Gass' Wunsch hin sollte "Der Tunnel" nicht wie ein Buch, sondern ein Konvolut von Seiten wahrgenommen werden, die Aufzeichnungen Kohlers. Form und Stil ändern sich in den verschiedenen Abschnitten des Romans
Nikolaus Stingls hervorragende Übersetzung ins Deutsche bleibt diesen Vorgaben treu. "Der Tunnel" bleibt deshalb auch ein sperriges Buch, eine Herausforderung für seine LeserInnen, teilweise ein Plage. Doch wenn man sich einmal mit den Gedanken des Protagonisten unter die Erde begeben hat, will man auch wissen, wohin uns sein Tunnel führt.