Erstellt am: 9. 1. 2012 - 12:30 Uhr
Filme, die die Welt dringend braucht (Teil 2)
Da sitzen wir schon wieder, in etwas veränderter Runde, rund um den virtuellen Kamin und schwärmen. Drei Filmbesessene, die aus unterschiedlichen Richtungen kommen, fiebern dem extrem vielversprechenden heurigen Kinojahr entgegen...
Christian Fuchs: Meine Lieben, heben wir uns diesmal die leichte Kost für später auf. Reden wir zunächst über quälende Leidenschaften, kleine Tode, über Sexsucht bis zum bitteren Untergang. Joel, willkommen in der Runde, du hast den dazugehörigen Film bereits gesehen, auf den wir alle warten heuer.
Filmladen
JOEL KAIRO ist Staatsmeister im Einhorn-Rodeo, hauptberuflich Realitätsflüchtling und taucht dadurch auf diversen Filmfestivals auf.
SEBASTIAN SELIG lebt im Kino und da durchfährt ihn schon immer wieder mal ein fiebrig, vorfreudiges Zittern, öffnet sich mit unnachahmlich charmanten Motorensummen der Vorhang und es fällt (endlich) erneut bunt Licht auf die Leinwand.
CHRISTIAN FUCHS ist FM4-Redakteur und Musiker und betrachtet das Kino noch immer als kindlich verklärten Sehnsuchtsort und Therapiestation gleichzeitig.
Joel Kairo: Steve McQueen scheint es mit der Zweitkarriere als Filmemacher ernst zu meinen und schickt in "Shame", wie schon in "Hunger", den großartigen Michael Fassbender auf eine Tour de Force. Und treibt ihn als Sexsüchtigen, für den die Befriedigung seiner Sucht immer mehr zur Qual wird, erneut zu schauspielerischen Höchstleistungen.
Christian: Worum geht es?
Joel: Fassbender spielt Brandon Sullivan, einen slicken New Yorker Erfolgsmenschen, der permanent auf der Suche nach dem sexuellen Kick ist. Er surft auf Pornoseiten, onaniert auf der Bürotoilette, taumelt durch die Nacht auf der Suche nach One night stands, taucht in zwielichtige Keller-Etablissements ab, nur um ein wenig Sinn in seine Existenz vögeln zu können. Als seine Schwester Sissy, eine neurotische Barsängerin auftaucht (die ebenfalls wieder einmal glänzende Carey Mulligan), sich bei Brandon einquartiert und sich auf eine Affäre mit Brandons Vorgesetzten einlässt, verkomplizieren sich die Dinge im Leben der Geschwister immer weiter, zumal sie ein Ereignis in ihrer Vergangenheit auf fatale Weise zu verbinden scheint.
Sebastian Selig: Steve McQueen/Michael Fassbender, wenig vermag da sofort einen derart unstillbaren Hunger nach Kino in mir auszulösen, wie diese energetische Verbindung. Überhaupt natürlich Fassbender, ausnahmslos jeder Film mit ihm, erschien mir wie mit nacktem Oberkörper durch den Schnee joggen, dort oben, in den verschneiten Highlands. Was für ein Monster-Schauspieler.
Christian: Wann wird der Michael Fassbender Backlash einsetzen? Ich hoffe nie. Zuvor sollte er aber in einem Film mit Ryan Gosling und Tom Hardy spielen. Oder löschen sich die drei als intensive leading men gegenseitig aus? Anyway, bevor ich weiter herumspinne, Joel, du hast noch was zu diesen Themen parat?
Joel: Ja, auch in "Sleeping Beauty" geht es um Sex und Abhängigkeit, auch wenn Regisseurin Julia Leigh einen ganz anderen Zugang wählt. Ist man bei McQueen quasi forensischer Beobachter einer gequälten Seele, wird man hier in die Rolle des Voyeurs gedrängt. Aber erst einmal zur Story: Die Studentin Lucy (die anämisch, fragile Emily Browning) nimmt einen Job an, bei dem sie sich anästhesieren lässt, um sich wohlhabenden, älteren Herren für ein paar Stunden zur Verfügung zu stellen. Außer Penetration ist den Männern dabei so ziemlich alles erlaubt, mit dem reglosen Körper der jungen Frau anzustellen. Nach und nach will Lucy jedoch wissen, was während ihrer Ohnmacht mit ihr passiert.
Paramount
Christian: Das klingt nach diffizilem Terrain und lauten Sexismus-Schreien der Kritik.
Joel: Die von Jane Campion protegierte Julia Leigh bewegt sich in Sachen Voyeurismus und Sexploitation hierbei auf sehr, sehr dünnem Eis, das ihr mit einem Y mehr im Chromosomensatz laut krachend eingebrochen wäre.
Noch mehr Vorfreude:
"The Amazing Spider-Man"
Ich war genauso skeptisch wie alle anderen, was den frühen Zeitpunkt für ein Spider-Man Reboot betrifft, aber Besetzung und Trailer lassen langsam die Skepsis verdrängen und immer mehr Vorfreude aufkommen. Dass die Anbiederung an das Gamer-Zielpublikum durch die subjektive Kamera lächerlich ist, ist klar, aber bei mir – als Nicht-Gamer – funktioniert es dennoch. (JC)
"The Hunter"
Neben "Sleeping Beauty" der zweite Julia Leigh Film in diesem Jahr. Dieses Mal allerdings die Verfilmung eines ihrer Romane, einem wundervoll autistischen Buch über die Jagd, so wie vielleicht "The American" ein Film über Killer war. Mit Willem Dafoe. In Tasmanien. (SS)
"Cosmopolis"
Robert Pattinson in einem Film von David Cronenberg, dass wir das noch erleben dürfen. Basierend auf einem Roman von Don DeLillo gibt R-Patz einen jungen Milliardär, der bei der Suche nach einem Friseur in New York seltsame Abenteuer erlebt. Und jetzt Regisseur, Hauptdarsteller und Story nochmal auf der Zunge zergehen lassen. (CF)
"Bullet To The Head"
Walter Hill. Walter Hill. Walter Hill. Im Kino. VorfreudeDeluxe. (SS)
Sebastian: Mein Julia Leigh-Crush begann in diesem Sommer, als ich ihren Roman "The Hunter" las, der ebenfalls in diesem unstillbaren 2012 ja auch noch mit Willem Dafoe in die Kinos kommen wird. Wenn hier nun, in diesem bereits ausnahmslos mit hypnotischen Bildern strotzenden Trailer, die Vogelbeeren aus der Hand Emily Browings auf den Boden der dunklen Limousine kullern, die Dronen-Musik anschwillt und in pulverfarbenem Blau geschwelgt wird, Hach...dann habe ich mich da jetzt echt schon fast verliebt. In diesen ihren ersten, gänzlich eigenen Film.
Christian: Ich hatte ja einmal die Ehre, beim Pressezirkus zu "Suckerpunch", Emily Browning gegenüber zu sitzen. Und hab mir diese sehr charismatische junge Frau dann in einem Arthouse-Experiment gewünscht. Bin sehr gespannt und übergebe an dich Sebastian, du hast auch einen eher ungewöhnlichen Tipp für uns?
Concorde
Sebastian: "Dogtooth" war 2009 ein kleines Wunder. Ein wenig so, wie wenn man etwas fassungslos den "Lost Highway" runter stolpert und dann plötzlich unversehens in einen türkisfarbenen Pool klatscht (abgebrochener Schneidezahn inklusive). Jetzt "Alps", der neue Film des konzentriert verrückten Griechen Giorgos Lanthimos, bereits kurz auf der Viennale und 2012 dann auch ganz regulär in den österreichischen Kinos zu sehen. Es geht um die Alpen und deren Geschäftsführer, der sich Mont Blanc nennt. Eine verschworene Unternehmung, die unter strenger Führung und mit peniblen Regelwerk, Darsteller vermietet, die dann auf Wunsch von Hinterbliebenen den Platz kürzlich Verstorbener einnehmen, um hier möglichen Verlustschmerz aufzuwiegen. Ich glaube, ich freue ich mich da auf diesen Film, wie ich mich seinerseits vielleicht einmal auf "Fight Club" freute. Fühlt sich jedenfalls so an. Zauberhaft kribbelig irgendwie.
Sebastian: Aber all das ist natürlich nur verführerisch buntes Methadon, um die Ungeduld von uns Besessenen auf den neuen Ulrich Seidl-Film erträglich wirken zu lassen. Was heißt da Film? Filme! Alleine drei wurden uns über das Paradies versprochen und dann geht es ja noch in den Keller und zum Kern aller Dinge.
Ulrich Seidl
Christian: Er ist auch mein allerliebster Ösi-Regisseur. Weil er all das, was man mit dem heimischen Kino und der heimischen Seele verbindet, sozusagen kondensiert und bis zu einem Punkt verdichtet, wo es nicht mehr um Sozialstudien oder emotionale Vergletscherung geht. Sondern wo es brennt und wehtut, wie eine offene Wunde. Gleichzeitig pulsiert bei Ulrich Seidl ein Herz für seine desperaten Figuren. Aus seinem Filmprojekt "Paradies" wird er tatsächlich gleich drei Filme machen, die von drei Frauen und ihren Urlauben handeln. Es geht um Sextourismus, um das Leiden in einem Hungercamp, wahrscheinlich wieder um Erniedrigung und die Hölle des Daseins.
Sebastian: Ulrich Seidl ist mir wahrlich (neben Dario Argento natürlich) der welt- und filmgeschichtlich-übergreifend größte Held. Das was Du da von Herz und Liebe berichtest, springt mich aus seinen Filmen auch regelmäßig an. Wenn ich die Wahl hätte, mit und in einem Film alt zu werden, dann sollte das „Import/Export“ sein. Eine Grenzerfahrung, die einen nahezu ununterbrochen und vor allem echt, mit Liebe flutet.
viennale
"Snow White And The Huntsman"
Kristen Stewart als Schneewitchen, eine naheliegende, in jedem Fall großartige Idee. Glücklicherweise steht uns aber kein müder "Twilight"-Aufguß á la "Red Ridinghood" bevor. Die blasse Prinzessin kämpft hier in schwerer Rüstung gegen die böse Königin (Charlize Theron), es fliegen hoffentlich die Fetzen im Märchenwald. (CF)
"Brave"
Pixar schenkt uns mit Merida ein Mädchen, das nicht nach einem Prinzen schmachten muss oder als Sidekick für den wahren Helden dienen darf, sondern sich mit Pfeil, Bogen und Pferd auf die Suche nach Abenteuer und Freiheit macht. (JC)
"Hansel And Gretel: Witch Hunters"
Noch ein grimmiges Märchen. Die wunderbare Gemma Arterton und Hollywoods neuer, kredibler Actionbube Jeremy Renner zahlen sämtlichen Hexen ihre (und unsere) Kindheitstraumata heim. Es fließt Blut im Lebkuchenhaus. (CF)
"Livide"
Alexandre Bustillo & Julien Maury, die mit ihrem meisterlichen Erstling "Inside" Innenarchitektur und Kaiserschnittgeburt durchdekliniert haben, widmen sich nur der Gothik. Erneut mit der wundervollen Béatrice Dalle als dunkle Hohlpriesterin. (SS)
"Abraham Lincoln: Vampire Hunter"
Während Spielberg an einer seriösen Biografie des legendären US-Präsidenten arbeitet, rückt good old Abe hier mit Pfahl und Hammer gegen Blutsauger aus. Ein herrlich wirr klingender Genre-Mashup in 3D. (CF)
Christian: Bis an die Grenzen geht in gewisser Weise auch "Take Shelter", mein Lieblingsfilm der Viennale 2012, der hoffentlich regulär startet heuer. Der furiose Michael Shannon, beklemmend auch in "Boardwalk Empire" und etlichen Indiefilmen, spielt einen biederen Durchschnittsarbeiter, den diffuse Apokalypseängste quälen. Wie sich, ganz subtil und realistisch, die Paranoia-Schlinge um seinen Hals zuzieht, ist nicht nur ganz großes Kino. "Take Shelter" wird für jeden, der selber bisweilen am Konstrukt "Realität" zweifelt, zur schweißtreibenden Belastungsprobe. Der man sich aber unbedingt stellen sollte.
Christian: Paranoiakino ist auch noch so ein Stichwort. Reden wir doch endlich über "Tinker, Tailor, Soldier, Spy".
Studio Canal
Sebastian: Von diesem Geschenk von einem Film zum Jahresanfang verspreche ich mir nicht viel weniger, als das er allerdichteste Paranoia in mir ausbreiten möge. In backsteinfarbenen, wie von Meisterhand gezirkelten Bildern, die im Idealfall ständig minimalistische Architektur wie aus den 60ern abfeiern. Und Budapest. Da mitten drin dann Gary Oldman. Und Tom Hardy. Und die wundervolle Svetlana Khodchenkova. In einem dichten Netz aus Geheimnissen und Verrat. Und jedes noch so kleine Detail gewichtet schwer in dieser John le Carré-Verfilmung von Thomas ("Let The Right One In") Alfredson.
Joel: Das wird ein Film, bei dem ich durchgehend mit Herzrasen im Kino sitzen werde. Diese „Jeder ist verdächtig, trau niemandem“ Filme evozieren bei mir ärgste Paranoia und Angst. Ähnliche Angstzustände bekomme ich nur, wenn ich lese „A film by Paul W.S. Anderson“.
constantin film
Sebastian: Da fällt mir kein zweiter Regisseur ein, der da jemals künstlerisch von einer kruden, neuen Technik so entfesselt worden wäre, wie dieser Paul W.S. Anderson. Vor seinem Meisterwerk "Resident Evil: Afterlife 3D", drängte er sich mir lediglich als mäßiger, ja langweiliger Nerdkino-Erzähler mit hin und wieder vielleicht noch dem einen, wie auch anderen schönen Set ("Event Horizon") auf. Jetzt, dank 3D, ist er mit einem Schlag tatsächlich zu einem der spannendsten Kunstfilmer dieser Dekade gereift. Einer, der sich wie kein zweiter an der Tiefe des Raums abarbeitet. Darin eine ganz eigene, extreme Künstlichkeit findet und so immer neue, fantastische Räume für das Kino aufstößt.
Christian: Ich habe "Afterlife" ja ignoriert, weil so genervt von den anderen, blutleeren "Resident Evil" Teilen davor. Du machst mir bisweilen Angst, Sebastian, was das Genrekino betrifft. Aber schwärme doch weiter....
Sebastian: Erzählt wird in „Afterlife 3D“ (wie auch seinem revolutionären Rokoko-Experiment „Die drei Musketiere“) nicht viel mehr, wie auch in die Black Box in einem Museum passen würde und doch lassen sich zunehmend spannend bereits immer wieder variierende Motive in diesen extremst verschlüsselten Werken ausmachen. So sehen wir beispielsweise immer wieder Frauen aus großer Höhe, furchtlos in die Tiefe stürzen, wird der Raum immer ganz groß und seltsam aufgemacht. In seinem neusten Werk "Resident Evil: Retribution" verspricht das jetzt alles nochmal viel globaler aufzureißen. Erneut mit Zombies, was natürlich perfekt zur Kälte dieser großen Bilder passt. Neben seiner Muse Milla Jovovich wird dann auch endlich wieder Michelle Rodriguez mit dabei sein. Can't wait.
Joel: Und dann kommt Ende 2012 natürlich noch Quentin Tarantinos "Django Unchained". Christoph Waltz ist Dr. King Schultz, ehemaliger deutscher Zahnarzt, nun Kopfgeldjäger, der, um an einen Flüchtigen zu gelangen, auf die Informationen des Sklaven Django (Jamie Foxx) angewiesen ist. Deshalb schenkt er ihm die Freiheit und bildet ihn zum Kopfgeldjäger aus. Gemeinsam machen sie sich schließlich auf den Weg, um Djangos Geliebte Broomhilda (Kerry Washington) aus den Händen des Großgrundbesitzers Calvin Candy (Leonardo DiCaprio) und seinem brutalen Handlanger Ace Woody (Kurt Russel) zu befreien.
The Weinstein Company
Christian: Du hast ja das im Netz herumschwirrende Drehbuch gelesen, führt der Titel alle verbliebenen Franco-Nero-Fans so in die Irre, wie es schon der puren Trashfraktion mit "Inglorious Basterds" ergangen ist?
Joel: Tarantino huldigt in jeder Zeile seines Drehbuchs den Italo-Western Großmeistern Leone, Corbucci und Castellari, aber es wäre nicht Tarantino, wenn er es bei einer simplen Hommage belassen würde. So zeigt sich "Django Unchained" als brutaler, elegischer Mix aus Spaghettiwestern und Blacksploitationknaller, bei dem Christoph Waltz wieder mal brillieren kann. Tarantino hat ihm die Rolle des distinguierten Killers zumindest auf den Leib geschrieben.
Christian: Klingt toll und nach dem Film, der Rassisten so zur Weißglut treiben wird wie es Neonazis mit den "Basterds" ergangen ist.
Sebastian: „Django Unchained“ wird uns ja, bleibt es bei der derzeitigen Planung, dann erst zum Jahresende, passend zum Fest der Liebe unter den Weihnachtsbaum gelegt. Als hoffentlich krönender Abschluss eines schon jetzt, aus der Unschuld des Januars heraus betrachtet, überbordenden Kinojahr 2012. Genau so muss es sein.