Erstellt am: 30. 12. 2011 - 14:13 Uhr
Crossover bitte nicht ausschildern
Musik-Rückschau Teil 1:
Super Bass
Dicke Beats, HipHop, Elektronik, die Dubstepifzierung der Welt.
Von allmächtigen - musikalischen - Tendenzen, die insgesamt ein "Musikjahr" prägen, ist kaum mehr zu sprechen. Quer über den Globus verstreut sitzen die Menschen in ihren Kellern und machen alle und jede Musik. Wenn vier, fünf Acts ihren Geräten ähnliche Sounds entlocken und vielleicht noch denselben Friseur haben, wird schön ein neues "Genre" oder eine "Schule" ersonnen und mit Idee aufgeladen. Schlimm ist das nicht, sofern man hier nicht jeden Geistesblitz als harten Gesetzestext liest, vielmehr bieten doch etwa die Konzepte "Witch House" "Skweee" und "Postfolk" die nötige Orientierung und bringen Prickeln ins sonst fade Leben.
Bon Iver
Mit wenigen Ausnahmen sind 2011 Gitarren-Bands/Acts dann am Besten gewesen, wenn sie schlicht das getan haben, was sie am Besten können: Gitarren-Band-Sein. Natürlich werken überall nach wie vor die wildesten Experimentierer im Untergrund, im Gitarren-Mainstream jedoch hat oft - im besten Sinne - Schlichtheit dominiert. Sehr gute Alben von solch unterschiedlichen Gruppen wie Fucked Up, Iceage oder Wild Flag haben die schnörkellose Macht von Hardcore, Punk und Rock'n'Roll demonstriert. Die Elektronik und die Turntables haben viele Bands weggesperrt, Vorlieben für Kraut und Prog oft nicht mehr als gar so grelles Konfekt in die Auslage gestellt. In Zeiten, in denen es mehr oder weniger jedem sehr schnell möglich ist, die absurdesten musikalischen Referenzen zu droppen und mongolischen Free Jazz der 60er-Jahre und die Obertongesänge grönländischer Kontra-Gruppen ins eigene Klangdesign einzupassen, scheinen sich als Auswege aus der Beliebigkeit einerseits die selbst auferlegte Reduktion und Limitation in den Mitteln oder andereseits der bescheidene, uneitle, nicht vor coolem Insider-Wissen strotzende Umgang mit Fremdmaterial anzubieten: Die schlichte Addition der Styles, die die unterschiedlichsten Summanden stolz aufzeigt, einst coolster Chique, funktioniert nur noch selten: "Wie, die machen Indie UND Dance? Postpunk UND Disco? White-Boy-Rock UND Afropop? Wow, Metal UND Rap?" Für Nu-Rave schämen sich jetzt alle.
Girls
Zwei bemerkenswerte Platten des Jahres, denen irgendwann noch das Konzept "Gitarre" immerhin als ideologisches Fundament gedient haben mag, ist gemein, dass hier die Sounds eben zu einer Legierung verschmelzen, der man die Einzelkomponenten kaum mehr anhören kann - eine Musik, die immer schon so gewesen sein muss. Die neuen Alben von Bon Iver und Destroyer - zwei verdiente Konsens-Platten des Jahres - lassen die Ideen von Singer-Songwritertum /Rauschebartfolk/Indie im magischen Licht von R'n'B und Soul erstrahlen. Mit Saxophon.
Ähnlich gut und abgefeiert war das schon bedeutungsmächtig "Father, Son, Holy Ghost" betitelte zweite Album der Band Girls aus San Francsico. Mit über ganze Albumlänge verstreuten ein, zwei, drei Durchhängern wird hier Guns'n'Roses'scher Bombast samt Gospelchören mit den Händen und Mitteln eines belesenen und sympathischen Gossen-Punks zelebriert.
Die "wichtigste" Platte des Jahres kommt von PJ Harvey. "Let England Shake"- auf unzähligen Jahresendbestenlisten auf Platz Eins - Harveys Liedersammlung über England und den Krieg und über das, was das eigentlich bedeuten soll: Heimat. Ein Album von konzeptioneller Strenge, ein, man kann das ohne zynischen Beigeschmack sagen, Meisterwerk, eine Platte, von der noch in zwanzig Jahren die Rede sein wird, wenn dereinst der seltsame Geist dieser jetzigen Gegenwart dingfest zu machen versucht werden wird - aber auch ein karges und säuerliches Brot: Autor Steven Hyden vom Online-Magazine A.V. Club meinte dazu "I Love PJ Harvey, but listening to 'Let England Shake' felt like homework." So muss das aber wohl auch sein. An kaum einem Album dieses Jahres lässt sich besser die Frage nach Sinn und Unsinn des Konzepts "Album als zusammenhängende Kunstform" entfachen.
Soll Musik nur eine ästhetische Ansammlung von Zeichen sein, zu der sich gut der schwitzende Körper bewegen lässt? Oder doch harte Kunst, die uns etwas von unserem Verhältnis zur Welt berichten kann? Freilich beides. "Let England Shake" ist aber eben nicht nur eine wichtige Platte, sondern auch eine sehr gute. Konzentriert instrumentiert, durchsetzt von Bläser-Sätzen, die die Fanfaren der Schlacht illustrieren. Man muss sich diese Musik möglicherweise ein wenig erarbeiten, dann aber sticht sie ins Herz. Man mag den Krieg nicht persönlich gesehen haben, von "Let England Shake" jedoch kann man sich besser als von kaum einer Platte dieses Jahr vom Leben erzählen lassen.
PJ Harvey
Kurt Vile
Endlich zum Kritiker-Liebling und bescheidenem Publikums-Magneten ist dieses Jahr Kurt Vile avanciert. Der Musiker aus Philadelphia nutzt auf seinem dritten Album "Smoke Ring For My Halo" das reduzierte Schrubben seiner Gitarre als Trägermaterial für seine nach den Vorbildern Dylan und Springsteen modellierten Geschichten über die großen Themen Liebe, Religion, Leben. Ebenso empfehlenswert ist Kurt Viles ehemalige Band The War On Drugs mit ihrem Longplayer "Slave Ambient", das in ähnlichem Wasser wie Vile agiert, jedoch üppiger orchestriert und Gitarrenwände nicht scheut.
Eine Band, von der dieses Jahr ein verdienter Durchbruch in stärker bevölkerte Aufmerksamkeitssphären erwarten zu gewesen wäre, ist die unfassbare Gruppe White Denim. Das Quartett aus Austin, Texas erfüllt das Klischee von der "hart arbeitenden" Band, die seit Jahr und Tag durch die Spelunken tingelt - das allein ist freilich kein Grund, eine Band gut zu finden - und sich so mittlerweile einen soliden und mitunter sehr devoted Fan-Stock erspielt hat. In den USA und da und dort anderswo können White Denim bisweilen auch schon mittlere Locations ganz gut füllen, warum aber dieses Jahr der avanciertere Gitarren-Mainstream diese Band nicht komplett verliebt in die Arme genommen hat, bleibt ein ewiges Rätsel.
2011:
30 sehr, sehr gute Platten
30. Tim Hecker – Rave Death, 1972 / Dropped Pianos EP
29. Puro Instinct – Headbangers in Ecstasy
28. The War On Drugs – Slave Ambient
27. Moomin – The Story About You
26. Kuedo – Severant
25. EMA – Past- Life Martyred Saints
24. Gang Gang Dance – Eye Contact
23. Peaking Lights – 936
22. Real Estate – Days
21. Laurel Halo – Hour Logic
20. Girls – Father, Son, Holy Ghost
19. Clams Casino – Instrumental Mixtape
18. Toro Y Moi – Underneath the Pine
17. SBTRKT – SBTRKT
16. Destroyer – Kaputt
15. Jonsson/Alter – Mod
14. Bon Iver - Bon Iver, Bon Iver
13. Oneohtrix Point Never – Replica
12. Machinedrum – Room(s)
11. Julia Holter – Tragedy
10. Rustie – Glass Swords
9. Nicolas Jaar – Space is only Noise
8. Holy Other – With U
7. PJ Harvey – Let England Shake
6. Kurt Vile – Smoke Ring For My Halo / So Outta Reach EP
5. White Denim – D
4. James Blake – James Blake
3. Sandro Perri – Impossible Spaces
2. Shabazz Palaces – Black Up
1. Ja, Panik – DMD KIU LIDT
------------------------------
Die Reihung ist streng objektiv. Feel free to hate
What's not to like about those dudes? Der Bandname? Die - wenn man Augenzeugenberichten und Dokumentationsmaterial aus dem Internet glauben darf - Awesomeness der Live-Performance? Der Humor? Das egale Aussehen der Typen? Die schönen, schönen Lieder?
"D", das vierte Album von White Denim, ist eine Platte, die von vorne bis hinten geilen Rock'n'Roll-Spaß macht. White Denim gelingen hier vollkommen unaufdringlich die merwürdigsten Pirouetten. Garagen-Rock und Südstaaten-Sumpfrock aus der Abteilung Creedence Clearwater Revival versöhnen sich da mit nervös Haken schlagendem, gut angejazztem (Post-)Punk, der auch einer Band wie den Minutemen oder einem Label wie SST in den mittleren 80ern im Allgemeinen gut zu Gesicht gestanden wäre. Wirre Psychedelik, schmachtende Torch-Songs, ein paar Tupfer Tropicalia und gar ein wenig gut dosiertes esoterisches Geflöte fügen sich zu der Welt, die White Denim ist.
"D" ist die beste Rock-Platte des Jahres geworden: Ein Album, das glüht und vibriert, ein Album, auf dem so viel passiert, das dabei aber in keinem Moment den Eindruck erweckt, Meisterwerk und Kunststück sein zu wollen. Die letzten Sonnenstrahlen lassen das Herbstlaub in den herrlichsten Brauntönen erleuchten, White Denim machen ein Nickerchen in der Hängematte, die Bierdose zischt, dabei fällt ihnen dann ganz nebenbei so eine Platte wie diese aus dem Hemdsärmel.
White Denim
Die Top-Themen der jüngeren Vergangenheit, Hauntology und Hypnagogic Pop, schwingen 2011 immer noch nach. Die Beschwörung vergangener Geister, eine Ästhetik des Unscharfen und Verwaschenen, Musik als bloßes Faksimile. Die einst verfeindeten Lager Noise und Dance zerfließen in einer einzigen wunderbaren Suppe, Labels wie Not Not Fun, 100% SILK, Hippos in Tanks und Mexican Summer sind die assozierten Brutstätten of Cool.
Julia Holter
Es geht nicht ohne: Simon Reynolds hat mit seinem sehr guten Buch "Retromania" - das einerseits nicht unbeträchtlichen Reiz aus der Provokation zieht, andererseits an vielen Stellen selbst nur Archiv und Geschichtsverwaltung ist - hinsichtlich der eigenen These hoffentlich auch einen Endpunkt formuliert. Nur ein bisschen noch, dann wird alles neu, besser und gut. Bis dahin dürfen wir uns noch am verhuschten Dream-Pop von Puro Instinct, dem spirituellen Dröhnen von Tim Hecker und den beängstigenden Todesfugen von Julia Holter ergötzen. Die Peaking Lights produzieren derweil psychdelisch schimmernden und merkwürdig eiernden LoFi-Dub, aus dem ganzjährig die Sonne scheint, und arbeiten in langweiligen Stunden an Remix-Projekten mit z.B. dem HipHop-Duo Main Attraktionz.
Die junge kanadische Musikerin Grimes, die nächstes Jahr mit ihrem dritten Album und nach einer Tour im Vorprogramm von Lykke Li mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Star aufsteigen wird, nennt ihr eigenes musikalisches Stil-Potpourri in Interviews immer wieder gerne - leicht frech angehaucht - "Post-Internet": Alles ist machbar, wir sind digital aufgewachsen mit allem und wir finden auch nichts groß dabei.
Wir warten inzwischen noch auf die Zeit, in der dieser Umstand nicht mehr erläutert werden muss und wir auch keine Begriffe mehr dafür brauchen.