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Philipp L'heritier

Ocean of Sound: Rauschen im Rechner, konkrete Beats, Kraut- und Rübenfolk, von Computerwelt nach Funky Town.

29. 12. 2011 - 15:00

Super Bass

Rewind 2011: Musik-Rückschau Teil 1. Dicke Beats, HipHop, Elektronik, die Dubstepifzierung der Welt.

Das beste HipHop-Mixtape des Jahres beginnt mit Zeilen, die mit der eigenen Verblüfftheit über die den Erzähler umspinnenden Hype-Kapriolen und der obligatorischen Egalheitshaltung des zurückgelehnten, chillen Typen kokettieren, dabei aber gleichzeitig - ohne eine Idee von Selbstzweifel - die Gewissheit formulieren, dass hier Großes am entstehen ist:

"God damn, how real is this?
I know them Harlem niggas gonna be feeling this
East coast nigga, but how trill is this?
Still don't give a shit, my ignorance is still a bliss"

Clams Casino

Clams Casino

Clams Casino

"Palace" nennt sich das Eröffnungsstück auf "LiveLoveA$AP", einer wie beiläufig hingeworfenen Track-Sammlung, die dabei aber zwingender ist als nahezu jedes dieses Jahr veröffentlichte "reguläre" HipHop-Album. Sein Protagonist, der 24-jährige MC A$AP Rocky, den seine Eltern vermutlich in weiser Vorraussicht im bürgerlichen Leben im Andenken an den wahrscheinlich größten MC aller Zeiten mit dem Vornamen "Rakim" bedacht haben, ist mittlerweile fast schon im Palast eingezogen. Einen 3 Millionen-Dollar-Vertrag mit Sony/RCA hat der jungen Mann, der bislang als wortgewaltiges Aushängeschild der ASAP-Crew aus Harlem herhält, schon in der Tasche. Da kommt aber noch mehr.

2011 ist so einiges aus dem quasi mit DIY-Ethos, Bastelschere und Tacker im Lo-Fi-Modus betriebenen Rap-Underground höchstwirksam an die Oberfläche gebrodelt: Neben der ASAP-Posse, das mit ihr eng verklüngelte und schön verstrahlte Duo Main Attraktionz und - am prominentesten - die Odd Future Gang aus Los Angeles um den Mann mit den Socken: Tyler, the Creator.

Asap Rocky

Asap Rocky

Asap Rocky

Bei Letzterem und seinen Boys ist dieses Jahr aber dann am Ende wenig mehr als besonders dumme Ansagen, ein sehr guter Song samt Video, ein mittelmäßiges Album und ein konstantes Benehmen wie eine offene Hose herausgekommen. Na gut, große Mainstream-Aufmerksamkeit, ein MTV Award - und ein Feature mit, of all people, The Game. Der trägt jetzt im Video auch etwas engere Hose. Musik, die sich zu sehr in der eigenen Krassheit gefällt.

Neben - auf anderen Feldern - James Blake und Nicolas Jaar, die schon vor 2011 mit einiger Bekanntheit ausgestattet waren, ist der junge Produzent Clams Casino der Newcomer des Jahres. Ein - ohne großen Masterplan betrieben - Verknüpfer unterschiedlicher "Szenen" und so beinahe auch ein Mann des Jahres.

Tyler the Creator

Tyler, the Creator

Tyler, the Creator

Clams Casino bastelt zuhause in New Jersey am Rechner Beats, verschickt sie auf gut Glück und kommt so in den unterschiedlichsten Umgebungen an. Für Lil' B hat er schon produziert, für die Main Attraktionz und für ASAP Rocky. Seine Konstruktionen sind von dunklen Sirup-Wellen durchzogen, Choräle schwellen an, kleingehackte Schnipsel aus Charts-Pop verschmelzen mit Ambient-Wänden. Dabei ist Clams Casino kein zitathafter Verweber diverser Styles und Archivar herrlich obskurer Distinktions-Souvenirs, sondern ein Mann, dem die Sounds zufällig zuzufliegen scheinen. Das, was im vergangenen Jahrzehnt noch unerhört großartig war, die Verquickung von Genres und die Brückenlegung zwischen den Konintenten, sei es beim LCD Soundsystem, bei M.I.A., TV On The Radio oder dem Animal Collective, ist heute Standard. Alles ist immer da und Zeit existiert nicht.

Während aus dem super-slicken R'n'B von dem dieses Jahr ebenfalls neu und promintent aufgetauchten The Weeknd aus Kanada einerseits in allen erdenklichen Formen und Farben das große Gefühl und die Geschmeidigkeit tropft, der andereseits aber auch mit Billig- und Indie-Charme flirtet (auch hier ist Clams Casino teilweise mit im Spiel), haben die beiden Obermacker Kanye West und Jay-Z einfach mal so die teuerstmöglichen Samples in ihrem gemeinsamen Album "Watch The Throne" verbraten. Ein sehr gutes Album, das letztlich aber nicht mehr ist als der Titel besagt, eine Selbstvergewisserung der Könige. Ein ähnlich gutes, wenn nicht gar besseres Album ist dem unwahrscheinlichsten Rap-Star der jüngeren Vergangenheit gelungen: Drake. Schmerzliche Introspektive und ein Leben wie ein Bill-Cosby-Pullover. Das beste HipHop-Album des Jahres aber kommt, abseits der Cliquen, aus Seattle: Ishmael Butler of Digable-Planets-Fame erschafft mit "Black Up", dem Debüt-Album seines Projekts Shabazz Palaces, tatsächlich neue Welten. Ein im Wortsinne merkwürdiger Kosmos zwischen Native Tongues, Outkast'schem Space-Funk, Soul, Sex, politischer und spiritueller Reflexion und abstrakten Computerwelten. Simon Reynolds, hier ist die Zukunft.

Shabazz Palaces

Shabazz Palaces

Shabazz Palaces

Das Flüstern der Geister

Eines der besten Labels des Jahres war Tri Angle Records aus England. Im Entstehungsjahr 2010 relativ schnell als Hipster-Label unter der Fuchtel von "Witch House" verschrien - über Namen und Logo dürften die Betreiber wohl mittlerweile selbst nicht allzu glücklich sein - konnte Tri Angle 2011 mit einer Handvoll Releases zeigen was alles Platz hat im Schatten der Pyramide:

Tri Angle Records

Tri Angle Records

Die experimentelleren, weniger auf den Bounce abzielenden Produktionen von - schon wieder - Clams Casino sind hier erschienen, ebenso wie jene der aus Kuwait stammenden Alleskönnerin Ayshay aka Fatima Al Qadiri, die dem Terminus "Weltmusik" noch einmal einen spannenden Twist zu geben vermag. Verschwörerisch knurrender Pop von den Water Borders oder pastorales Wasserblubbern von Balam Acab (übrigens das Album des Jahres von Kollegen Edlinger) - kein Release auf Tri Angle war dieses Jahr nicht immerhin sehr gut. Essentiell jedoch war die "With U"-Ep des scheuen und hier wie anderswo schon zu Recht abgefeierten englischen Produzenten Holy Other. Hier ist nicht weniger als die Essenz dessen zu hören, was dereinst das Versprechen von Witch House gewesen ist. Es ist überhaupt kein weiter Weg von Pop Ambient der Schule KOMPAKT hin zu rudimentär rumpelnden Dubstep-Restspuren und den dieses Jahr zum guten Ton gehörenden steil verpitchten R'n'B-Samples. Es ist ein erhellender.

James BLake

Jame s Blake

Ja, er

Wir brauchen Bass

Über den nach Burial zweitwichtigsten Erfinder der Sprach-Sample-Modulation ist heuer schon sehr viel gewusst und geschrieben worden, auch hier an dieser Stelle. Die größte Überraschung und für nicht wenige Enttäuschung des Jahres ist das Debütalbum von James Blake gewesen. "James Blake" von James Blake ist ein Album des Jahres, das so gut wie in jeder Jahresendliste irgendwo auf den vorderen Plätzen rangiert - selbst wenn man vermuten muss, dass es mancherorts nur aus Pflichtgefühl dort hingehievt worden ist, aus Redakteurs-Angst, andernfalls als rückwärtsgewandter Dödel dazustehen. Man muss das nicht mögen, tatsächlich aber wird hier in kargstem Setting eine neue Ordnung der Sounds ausprobiert.

SBTRKT

SBTRKT

SBTRKT

Auf James Blakes Album wurde Dubstep weniger, an vielen anderen Orten mehr. Neben der allgemeinen Guetta-Fizierung jeglicher Mainstream-Charts von Black Eyed Peas bis Rihanna, also der grundsätzlichen Orientierung an "europäisch" kodiertem Großraum-"House", hat der kalifornische Produzent Skrillex eine vage über 3 Ecken kolportierte Idee von Dubstep mit Maximal-Verzerrer, Betonmischer, Nu-Metal-Testosteron und Emo-Attitude bei gleichzeitigem Frat-Boy-Herrenabend kurzgeschlossen - und füllt damit nicht bloß mehr in den USA die größten Hallen. Brostep, die Instinkt-Befriedigungs-Maschine.

Wesentlich angenehmer manifestiert sich der gefährliche Duft von Dubstep in den schönen Alben von Jamie Woon oder SBTRKT. Hier wird Dubstep in mundgerechten Häppchen als Pop in Form gebracht, anderswo ist er in stetiger Auflösung begriffen: Post-Irgendwas-Step war das große Wort des Jahres, gerne auch Future Bass oder überhaupt nur "Bass Music". Produktionen von Menschen wie Lone, Space Dimension Controller oder Blawan waren die avancierten Prototypen, R&S das dazugehörige Label der Stunde. Auf Albumlänge waren hier die Platten von Machinedrum, Sepalcure oder Kuedo die überzeugendsten: Die Partikel von Dubstep wurden hier in Richtung House, Juke oder knisternder Elektronika weitergedreht.

machinedrum

Sofie Fatouretchi

Machinedrum
Jonsson/Alter

Jonsson/Alter

Jonsson/Alter

Im Königreich der geraden Bassdrum, bei House und Techno, hat 2011 im Albumformat nicht allzu viel Spannendes geboren: Der Techno-Autor ist Band mit echten Instrumenten geworden, besonders schön an den Beispielen Apparat und Nicolas Jaar abzulesen, einmal mit einem sehr guten Album, einmal mit einem besten - mit Dance Music haben jedoch beide so gut wie gar nichts mehr zu tun.

Sehr erfreulich war die Gründung von DJ Kozes Pampa Records, das 2011 mit den drei ebenfalls sehr guten, wenn auch nicht komplett aus den Socken schießenden Alben von Isoleé, Ada und Robag Wruhme nach einigen 12"s einen eleganten Einstieg auf dem Longplayerfeld gefeiert hat. Hamburg ist nach wie vor Zentrale der geschmackvollen House-Musik: Roman Flügels "Fatty Folders" auf DIAL und "The Story About You" des Newcomers Moomin beim Schwesterlabel Smallville waren in der Abteilung "House, der ohne große Experimente und ohne Herumprobieren am Songformat als solcher Dance sein will" die klaren Sieger.

Ganz überraschend und quasi aus dem Nirgendwo kommt jedoch "Mod", das Debüt-Album des Duos Jonsson/Alter. Techno as can be, industrielle Strenge, ein eisiges Klirren, ein erschreckendes, ein beeindruckendes Zeichen, dass man sich nach drei, vier Jahren der Weichzeichnung und der Polka-Beats auf den Dancefloors dieser Welt, auch schön langsam wieder auf den Minimalismus freuen kann.

HOUSE MUSIC WITH FOLKLORE-SAMPLES UND ZIEHHARMONIKA MY ASS.

30.12: Musik-Rückschau Teil 2. Gitarren-Musik, wichtiger Rock, Abstraktes & 30 Platten des Jahres.