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Christian Fuchs

Twilight Zone: Film- und Musiknotizen aus den eher schummrigen Gebieten des
Pop.

28. 12. 2011 - 21:15

Lonely Hearts Club

Rewind 2011: In einem herausragenden Kinojahr taumelten einsame, verstörte Figuren durch Krisen und Katastrophen. Aufblitzende Hoffnungsschimmer inklusive.

Ryan Gosling, du fleischgewordene Neudefinition eigentlich längst abgehakter Coolness-Codes, du Indie-Sexfantasie in der schnittigen Skorpionjacke. Du musst noch warten.

Deine charismatische Figur des Stunt-Drivers, des zentralsten Kino-(Anti-)Helden im Konsensfilm des Jahres, auf den sich wirklich fast alle einigen konnten, darf heuer noch nicht offiziell abgefeiert werden.

Drive

constantin film

Persönliche Lieblingskino-Momente 2011:

Der Tortenstreit zwischen Mutter (Barbara Hershey) und Tochter (Natalie Portman) in "Black Swan". Gruseliger als jedes Splattermovie.

Wassertropfen, rauschende Bäume: Die Kinder der Familie O'Brian entdecken in "The Tree of Life" die Natur. Das Gefühl des Göttlichen, auch für Agnostiker auf den Punkt gebracht.

"Hanna", aus dem gleichnamigem Film, befreit sich zu den pumpenden Klängen der Chemical Brothers aus dem Gefängnis einer bedrohlichen Organisation. Adrenalinkino einer neuen Dimension.

Die Party-Kennenlern-Szene in "Beginners". Zehn Herzsymbole dafür.

Die schwergewichtige Melissa McCarthy nimmt Kristen Wiig in den Schwitzkasten und erklärt ihr in "Bridesmaids" (Regie: Paul Feig), wofür es sich zu leben und zu kämpfen lohnt.

Die Cunnilingus-Szene in "Kaboom", der sexy Apokalypse-Fantasie von Gregg Araki. Burschen, bitte mitnotieren.

Andrew Garfield hat in "Never Let Me Go" einen seiner raren Ausbrüche, als ihm sein Schicksal bewusst wird. Markerschütternder können Schreie nicht sein.

Die leise Resignation von Kirsten Dunst, während der Hochzeitsszene in "Melancholia": "But I smile and I smile and I smile."

Die letzten 30 Minuten von Danny Boyles "127 Hours".

Der Blick von Elle Fanning, nachdem sie in "Super 8" als Zombie geschminkt wurde. WOW in Großbuchstaben.

Denn "Drive", das gewalttätige und zugleich hochgradig romantische Meisterwerk von Nicolas Winding Refn, wird in Österreich erst im Jänner 2012 anlaufen. Dass der Streifen, der bislang nur in einigen Viennale-Vorstellungen lief, auch bei uns in aller Munde ist und im FM4-Exit Poll vorne mit dabei, sagt viel über die gegenwärtige Filmsituation aus. Kaum jemand will nach hymnischen globalen Vorabkritiken noch auf die oft absurd späten Starttermine hierzulande warten, vor allem wenn das gefeierte Werk nur einen (illegalen) Mausklick entfernt ist.

Dass ist doppelt schade. Während sich die Verleiher mit ihrer starren Politik selber um Gewinne und irgendwann um ihre Zukunft bringen, verpassen all jene, die einen Film wie "Drive" bloß auf dem Bildschirm oder gar nur am Laptop sehen, den gloriosen Rausch, den er auf der großen Leinwand auszulösen vermag.

ewan mcgregor mit einem hund in "Beginners"

universal

Der wortkarge Einzelgänger, den Ryan Gosling in dem minimalistischen Neo(n)-Noir-Thriller verkörpert, passt in jedem Fall perfekt zum Kinojahr 2011. In einer Zeit, in der die Wirklichkeit immer komplexere und zugleich banalere Züge annimmt und die Krise allgegenwärtig scheint, taumeln vermehrt isolierte, verstörte, brüchige Figuren durch grandiose Filme.

Siehe Ewan McGregors zerrissenen Charmeur, der in Mike Mills großartiger Tragikomödie "Beginners" mit der Liebe ringt, während sein Vater im Sterben liegt. Oder die ungleichen Brüder, gespielt von Christian Bale und Mark Wahlberg, die im Boxerdrama "The Fighter" die Erfahrung machen, dass das Leben die härtesten Schläge austeilt.

The Fighter

Centralfilm

Während draußen in Multiplex-Land die Harry-Potter-Saga ein Ende fand, Aliens und Cowboys gleichermaßen ins Genrekino zurückkehrten und die Superhelden aus der zweiten und dritten Reihe vor den Vorhang traten, konnte man abseits vom Popcorn-Entertainment heuer substantielle Filmerfahrungen machen.

Die Ausweglosigkeit des Extremkletterers, der in einer Felsspalte verunglückt. Die Leere in einem Wall Street Büro, in der Nacht vor dem großen Börsencrash. Die unendliche Traurigkeit einer Gruppe von geklonten Kindern, denen der sichere Tod bevorsteht. So gänzlich unterschiedliche Filme wie "127 Hours", "Margin Call" oder "Never Let Me Go" erzählten von einem erdrückenden, existentiellen Gefühl der Verlorenheit. Bei aller Intensität erwiesen sich diese Filme mit ihren hypnotischen Bildern und mitreißenden Schauspielern aber auch als Antithese zu hermetischem Kunstkino und simplem Sozialrealismus.

Zwei junge Frauen in einer Küche, Szenenbild aus "Never let me go"

abcfilms

Außer Konkurrenz-Momente, weil kein Ö-Start heuer:

Die Liftszene in "Drive" von Nicolas Winding Refn. Ein Moment für die Ewigkeit.

Der Augenblick, in dem sich der verstörte Curtis (Michael Shannon) in "Take Shelter" (Regie: Jeff Nichols) tatsächlich im Bunker verbarrikadiert. Purer Albtraumstoff.

Die letzten zehn Minuten von "Kill List" von Ben Wheatley. Die gleichzeitig die schlimmsten der jüngeren Horrorgeschichte sind.

Der Showdown von "The Woman" (Regie: Lucky McKee). Die zweitschlimmste Szene der jüngeren Horrorgeschichte.

In "Enter The Void" treibt der Ausnahmeregisseur Gaspar Noé die Verschmelzung von plakativen Popansätzen und irrlichterndem Experimentalfilm auf die Spitze. Er zeigt das Leben nach dem Tod als dreistündigen Psychedeliktrip, bei dem inmitten der grellen Farbexplosionen auch spirituelle Momente aufflackern.

Noch weiter in Sachen Grenzerfahrung geht Altmeister Terrence Malick mit seinem langerwarteten "The Tree Of Life". Das wahnwitzig schöne Epos erwies sich, ausgehend von einer simplen Familiengeschichte im ländlichen Texas, als aufwühlende Meditation über Sein und Nichtsein, Schöpfungsgeschichte und Todesreflexion.

Melancholia

Filmladen

Ideologisch sozusagen konträr, aber im Pathos eng verwandt, ist ein anderer im besten Sinne maßloser Film: Lars von Triers "Melancholia". Mit seinem bizarren verbalen Amoklauf in Cannes lenkt der dänische Regie-Monomane zunächst von seinem neuen Werk ab. Als die Weltuntergangs-Elegie aber dann anläuft, trifft sie mit ihrem giftigen Zynismus und Bekenntnis zur Depression aber viele Zuseher tief im Innern.

Kirsten Dunst und ihr militanter Schwermut werden jedenfalls von diesem Kinojahr noch lange in Erinnerung bleiben. Dabei ist sie bei weitem nicht die einzige Frau, die 2011 endlich auch so tief in ihre psychischen Abgründe blicken ließ, wie wir es von diversen Schmerzensmänner längst gewohnt sind.

Black Swan

Centfox

Noch mehr Lieblingsmomente:

Die ganze Love Hotel-Sequenz in Gaspar Noé's "Enter The Void" in ihrer knallbunten Schönheit.

Das Hundebegräbnis in "Margin Call" von J.C. Chandor.

Der versehentliche Tod von Osama Bin Laden in "Four Lions" von Chris Morris.

Die finale Abschiedsszene von "Paul" in der gleichnamigen Alien-Comedy von Greg Mottola. Taschentücheralarm für Freaks und Geeks.

Christian Bale verpennt das Training seines Bruders in "The Fighter" von David O. Russell und hetzt zu Fuß zum Boxclub.

Michael Fassbender stattet als Magneto in "X-Men: First Class" (Regie: Matthew Vaughn) einer argentinischen Kneipe einen Besuch ab.

Der "L'Illusioniste" im gleichnamigen Animationsmeisterwerk von Sylvain Chomet zaubert vor fast leerem Saal. Herzerweichend.

Cameron Diaz verbringt als trinkfreudiger und zugekiffter "Bad Teacher" (Regie: Jake Kasdan) den Weihnachtsabend bei der Familie eines Schülers.

Keira Knightley brüllte sich in David Cronenbergs luzidem Psychoanalyse-Drama "A Dangerous Method" die Seele aus dem Leib und spaltete damit die Zuschauer. Noch kontroverser wurde ein Film wahrgenommen, der bereits am Anfang des Jahres für Schlagzeilen sorgte. Darren Aronofsky lässt Natalie Portman in "Black Swan" um ihr Seelenheil tanzen, übersteigert Ballettklischees, nimmt die Castingshow-Gegenwart aufs Korn, liefert vor allem aber eine atemberaubende Gradwanderung zwischen Kitsch, Kunst und Körperkino.

Dass die Hoffnung inmitten all dieser quälenden Einsamkeits-Studien aufblitzte, verdankte sich ebenfalls weiblichen Charakteren. Im mit Abstand innovativsten und bildgewaltigsten Actionthriller des Jahres, dem Killer-Märchen "Hanna", siegt die blutjunge Titelheldin schließlich über sämtliche lethalen Bedrohungen. Aber es ist kein hohler Hollywood-Sieg, so wie Joe Wrights Film auch in formaler Hinsicht alle Blockbuster arm aussehen lässt.

Elle Fanning in "Super 8"

UPi

Auch im Nostalgie-Wunderwerk "Super 8" von J.J. Abrams verdanken sich die berührendsten Szenen einem kleinen, mutigen Mädchen. Es sind die Power und die Lässigkeit der einmaligen Elle Fanning, die ihren Buben-Gegenpart im Film antreiben und die sämtliche Spezialeffekte überstrahlen.

Voller vielschichtiger, komplizierter und erfrischend aggressiver Frauen präsentierte sich die umwerfendste Komödie des Jahres. "Bridesmaids" war so viel mehr als ein feminines Pendant zu den "Hangover"-Streifen. Ein minutiös beobachteter Kommentar zu Geschlechterverhältnissen, ein Anti-"Sex & The City", vor allem aber der ultimative Trostspenderfilm.

Denn der Ausweg aus der Krise, um meine Kollegin Pia Reiser sinngemäß zu zitieren, ist ja immer der Zusammenschluss mit anderen, die Solidarität, die Freundschaft, die Liebe. Wie heißt es in "The Tree Of Life"? "Unless you love, your life will flash by."

The Tree Of Life

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