Erstellt am: 27. 12. 2011 - 21:57 Uhr
Journal 2011. Eintrag 236.
2011 ist Journal-Jahr - wie schon 2003, 2005, 2007 und 2009. Das heißt: Ein täglicher Eintrag, der als Anregungs- und Denkfutter dienen soll, Fußball-Journal '11 inklusive.
Hier finden sich täglich Geschichten und/oder Analysen, die ich als passionierter Medien-Konsument selber gern gelesen/-sehen/-hört hätte, aber nirgendwo (oder nur unzureichend) finden konnte; und deshalb selber ausforschen und durchdenken muss.
Heute mit einem Beitrag zu FM4-Rewind. Enthält Querverweise zu Der schnelle Weg von den Riots zum Technokraten-Regime von Robert Rotifer und dem Im Sumpf-Jahresrückblick.
Sie nannten es Epochen-Jahr, in der letzten Sendung des Jahres, dem am Tag vor Weihnachten.
Und sie sind nicht niemand, im Gegenteil: sie sind die Kulturzeit-Redaktion von 3sat, also die weitaus beste Feuilleton-Redaktion im deutschsprachigen Raum. Sie sind die einzigen, die flächendeckend und tagesaktuell zugleich öffentlich nachdenken; die einzigen die eine zumindest wochentägliche Vorleistung geben, wo andere nachwassern und nachplappern.
Nach ihrem Epochen-Jahr-Rückblick konfrontierte die Kulturzeit den formulierungskräftigsten Deutschen, Roger Willemsen; und auch der widersprach der Formulierung nicht.
Mir ist sie ein wenig gar übertrieben vorgekommen, zuerst und auch angesichts der entfalteten Wirkungsmächtigkeit der Begriffs-Erfinder. Hätten sich die Hohepriester deutsch-feuilletonistischer Eitelkeit, die Zeit und/oder die FAZ auf ein "Epochenjahr" eingeschossen, wäre das Misstrauen angebracht. Aber in diesem Fall, in dem der Kulturzeit, in deren Kontext es so etwas wie öffentliche Eitelkeit nicht gibt (weil es sie nicht geben muss, weil man um seine herausragende Stellung weiß, und weil man auch weiß, dass es die anderen, die die andauernd um Anerkennung ringen, mit drastisch-doofen Mitteln, ja auch wissen), wich das Stirnrunzeln dann bald der Erkenntnis: das stimmt schon, das mit dem Epochen-Jahr.
2011, ein Epochenjahr als Antwort auf 2001?
2011 hat einiges auf den Punkt gebracht, was davor nur lose herum gelegen ist. 2011 hat vieles in den Mainstream, sogar in den Boulevard befördert, was davor nur Spezial-Wissen und Special Interest-Gebiet sein durfte oder konnte. Und 2011 hat vor allem eines getan: die Epoche der letzten zehn Jahre beendet.
Das was 2001, vor allem die Katastrophe 9/11, ausgelöst und verstärkt hat, alles was nach 2001 fast ein Jahrzehnt, eben eine kleine Epoche lang sakrosankt und unangreifbar war, nur von der kleinen Minderheit der immer Kritischen angezweifelt wurde, das ist 2011, in aller Öffentlichkeit komplett zerbröselt.
Die von der unheiligen Allianz des Neo-Konservatisvismus, des christlichen Fundamentalismus und des Neo-Liberalismus ausgerufene Herrschaft des Raffgier-Kapitalismus, der Unantastbarkeit des Finanzmarkt-Systems und der Kriegsherrschaft konnte jahrelang schalten und walten. Mainstream-Media erfand den Börsenjournalismus und die unkritische Copy/Paste-Masche um sich anzudienen und die Verschwörungs-Theoretiker halfen in ihrer Anti-Staat-Paranoia mit die staatlichen sozialen Systeme auszuhöhlen. So gelang es sogar den Banken-Crash von 2008 zu überstehen.
Comeback des Glaubens an den Staat, an Stelle des Markts
Die Koalition der Vernebler hatte nicht nur die Sozialsysteme und die Institution des Staats, sondern auch die Funktion von Politik und so letztlich die Wirksamkeit von Demokratie auf dem Einkaufszettel der Destruktion.
2011 hat die zuvor zaghaften Widerstände gebündelt und sichtbar gemacht. 2011 war auch das Jahr in dem die Anliegen von Occupyern, Wikileakern, Anonymikern und Protestlern für alle nachvollziehbar wurden.
Was davor nur kassandrisches Gerede war, hatte plötzlich Gehalt. Dass sich Demokratie in Postdemokratie, dass sich Politik in Postpolitik, dass sich Journalismus in Postjournalismus verwandelt haben, ist keine Vision, für die man einen Arzt aufsuchen sollte, sondern Beschreibung einer Realität.
Sich blöd- oder totstellen und die Verarschung, der man permanent unterzogen worden ist, schönzureden oder komplett auszublenden, das geht sich nach dem Epochenjahr, das vielmehr ein Bewusstmachungs-Jahr ist, nicht mehr aus. Oder, um Rotifer zu zitieren: "Nur meinungslos zuschauen und tun, als wär nichts, wird man sich 2012 nimmer leisten können."
Das Bewusstmachungs-Jahr als Ausreden-Killer
Die globale Occupy-Bewegung, die arabischen Revoltierer, die europäischen Jugendaufständischen oder auch die Piraten sind deswegen kein Schrecken mehr für die Normalbürger, weil sie die einzigen sind, die den Glauben an die staatlichen Institutionen am Leben erhalten, die Idee des demokratischen Gemeinwesens stärken wollen.
Die Konzerne, die Märkte, die ökonomische Elite, das ist 2011 auch den Dümmsten klargeworden, arbeiten genau in die andere Richtung. Die zwischen Hilf- und Willenlosigkeit pendelnde politische Kaste, der verelendete Journalismus, das wurde ebenso offensichtlich, sind keine Hilfe mehr, sondern nur Handlanger - solange sie sich nicht neuerfinden.
Die Epoche des absichtlich und von Dummheit geschürten Misstrauens dem demokratischen Staat und seinen sozialen Systemen gegenüber ist vom Epochenjahr 2011 beendet worden. Im Gegensatz zu 2001, wo einer eh schon vorhandenen Goldgräber-Stimmung die Möglichkeit der Instrumentalisierung eines Einzelereignisses in die Hände fiel, waren es 2011 (und auch schon zum Teil 2010) einige einander global befruchtende und weiterspinnende Ideen, die ein neues Bewusstsein und damit auch ein neues Denken zumindest möglich machen.
Ausreden gibt es ab 2012 keine mehr.