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Robert Rotifer London/Canterbury

Themsenstrandgut von der Metropole bis zur Mündung: Bier ohne Krone, Brot wie Watte und gesalzene Butter.

27. 12. 2011 - 13:40

So oder so

Rewind 2011: Der schnelle Weg von den Riots zum Technokratenregime - und wohin dann?

Man kann alles so und so sehen. Als zum Beispiel Anfang Dezember eine von der Tageszeitung The Guardian und seinem Schwesternsonntagsblatt The Observer in Auftrag gegebene und von der London School of Economics mitgetragene Untersuchung unter TeilnehmerInnen an den sommerlichen Riots ergab, dass jene zuvor acht mal öfter von der Polizei auf der Straße angehalten und untersucht worden waren (etwa weil nichtweiß oder weil jugendlich, schon überhaupt nichtweiß und jugendlich...), da schien das eine klare Erklärung für den unkontrollierten Zorn dieser Klientel gegenüber der Polizei zu sein.

Sir Ian Blair, der ehemalige Chef der Metropolitan Police hingegen, drehte in seinem Kommentar dazu den Spieß um: Die Studie belege vielmehr, dass die Polizei sich offenbar genau die richtigen vorgenommen habe. Jene schlimmen Finger nämlich, die es in sich haben, an asozialen Straßenunruhen teilzunehmen. Der Umstand, dass Leute, deren Gesichter schon im Polizeicomputer zu finden sind, sich eben ein wenig leichter ausforschen lassen als andere, blieb in der Analyse des Baron Blair of Boughton, wie man den Ex-Polizisten seit seinem Ritterschlag letztes Jahr vollständig nennen muss, bezeichnenderweise aus.

Was die von Leuten wie meiner gemeinen Wenigkeit gestellte Frage nach dem Warum anging, bevorzugte auch Premierminister Cameron die Methode der Schnelldiagnose: Eh alles nur Kriminelle.

Umso spannender, dass erwähnte, vom Guardian unter dem Titel Reading the Riots veröffentlichte Untersuchung zu völlig anderen Schlüssen kam:

Zum Beispiel, dass die Aufrührigen sich keineswegs aus dem Gangland rekrutierten, ja wenn überhaupt während der Riots ein Waffenstillstand zwischen sonst bitter verfeindeten Gangs herrschte.

Dass der Angriff auf das Feindbild der als bewaffneter Arm einer Unrechtsgesellschaft verstandenenen Polizei offenbar wichtiger war als die opportunistische Plünderung.

Dass selbst jene Plünderungen im Bewusstsein einer entsolidarisierten Ex-Gesellschaft stattfanden, in der die Reichen und Mächtigen schamlos „on the take“ sind und dumm ist, wer sich nicht bedient.

Dass ein erheblicher Teil des zwischen Arbeitslosigkeit und un- bis schlecht bezahlten Pseudojobs lebenden jungen Großbritannien sich von der Konsumgesellschaft entfremdet, ausgeschlossen, verarscht fühlt.

Dass 2011 also sehr wohl ein Zusammenhang bestand zwischen StudentInnendemos, Streiks im öffentlichen Dienst, der Occupy-Bewegung und den brennenden Straßen von Tottenham.

Mann mit Sweater mit Aufschrift Abolish Money predigt vor der St Paul's Cathedral

Robert Rotifer

Predigt der anderen Art vor der St Paul's Cathedral, Herbst 2011

Ich könnte nun hier einfach die Vorschau am Ende des letzten Jahresrückblicks wiederholen: „Die chauvinistische Schadenfreude über anderer Länder Schuldenkrisen wird davon kaum ablenken können, falls Großbritanniens neo-thatcheristisches Experiment nicht den vom konservativen Finanzministerium erträumten Boom des privaten Sektors bringen sollte.
Was wiederum jenen allmächtigen Credit Rating Agencies, denen die sparwütige Regierung alles recht machen will, erst recht nicht gefallen könnte. Die Arbeitslosenzahlen sind jedenfalls wieder im Steigen.“
(28.12.2010, inzwischen bei 2,56 Millionen angelangt, verbunden mit der schlimmsten Senkung des Lebensstandards seit dem Zweiten Weltkrieg)
Schon erstaunlich, wie alles, was damals auf der Hand lag, sich seither bloß zugespitzt hat.

Geographieheft aus den Achtzigern

Robert Rotifer

Mein Geographieheft, neulich gefunden, so um '83, '84 herum "... es begann ein Schrumpfungsprozess. Heute gibt es in GB ca. 3 Mill. Arbeitslose" - zwischen damals und jetzt immerhin eine 25-jährige Finanzblase

Hinzugekommen ist die mit steigenden Arbeitslosenzahlen bzw. Sozialausgaben und sinkenden Steuereinnahmen belegte Sicherheit, dass sich weder ein Ende der Krise noch ein Weg aus der Verschuldung herbeikürzen lassen, sowie das Ende der Fiktion, dass der private Sektor auf dem Stoppelfeld eines abgemähten öffentlichen Sektors erblühen und – wie prophezeit vom schönen Märchen der Big Society - die Wohltätigkeit den Wohlfahrtsstaat ersetzen würde.

Ab hier, so scheint's, wird sich alles noch beschleunigen. Als ich im September vom Opfern der Demokratie zugunsten der jenseits und diesseits von Kanal und Atlantik vorherrschenden neoliberalen Ideologie schrieb, hätte ich mir jedenfalls nicht gedacht, wie schnell sich in Italien und Griechenland die Parlamente selbstausschalten und sogenannte Technokratenregimes aus dem Hut ziehen ließen.

Man verzeihe die historisch aufgeladene Sprache, aber die längst unvermeidliche Aussicht darauf, was passiert, wenn eine ungewählte Regierung in Konflikt mit einer zornigen Bevölkerung kommt, erlaubt keine höflichen Untertreibungen mehr.

„du bist ein super schwarzseher!“ hat jemand, der/die sich „isfuturepast“ nennt, vor einem Jahr süffisant unter meinen Artikel geschrieben.

Da hat er/sie recht behalten, falls er/sie damit gemeint haben sollte, dass ich nicht voraussah, wie die Occupy-Bewegung die Infragestellung des bankrotten Wirtschaftsmodells zum Mainstream-Diskursthema machen würde.

Man kann die Dinge wie gesagt so oder so sehen, und dementsprechend kann alles durchaus noch so oder so ausgehen. Nur meinungslos zuschauen und tun, als wär nichts, wird man sich 2012 nimmer leisten können.