Erstellt am: 25. 12. 2011 - 23:24 Uhr
Journal 2011. Eintrag 234.
2011 ist Journal-Jahr - wie schon 2003, 2005, 2007 und 2009. Das heißt: Ein täglicher Eintrag, der als Anregungs- und Denkfutter dienen soll, Fußball-Journal '11 inklusive.
Hier finden sich täglich Geschichten und/oder Analysen, die ich als passionierter Medien-Konsument selber gern gelesen/-sehen/-hört hätte, aber nirgendwo (oder nur unzureichend) finden konnte; und deshalb selber ausforschen und durchdenken muss.
Heute mit einer Assoziation im Vorüberfahren.
Ich bin heute Mittag, wie immer, wenn man in Wien die Südausfahrt nimmt, bei der Spinnerin am Kreuz vorbeigekommen; und wie oft schießen da kurz Assoziationen durch meinen Kopf, die mit Volksschul-Wissen, alten Sagen und Wiener Geschichte zu tun haben. Diesen Geschichten wohnt eine gewisse Schönheit inne, sie transportieren aber auch eine düstere und brutale Lebensrealität der Vergangenheit. Die Spinnerin etwa war ein Hinrichtungsplatz.
Am Retourweg, kurz bevor wir wieder die Spinnerin passierten, hab ich bei einem kurzen News-Check eine Jubiläums-Geschichte zu den Märchen der Brüder Grimm vorgefunden. Und auch die atmen eine gewisse moralische Poesie, zeigen aber auch die verquere und menschenverachtende Denkrealität ihrer Zeit.
Da sowohl die Märchen als auch die lokalen Sagen/Fabel/Historie-Geschichten einen als Kind überfallen, haben sie sich zu einem gemeinsamen Narrativ verbunden, zu einer Erzählung, die mir etwas Zentrales über einen wichtigen Teil des menschlichen Selbstverständnisses erzählt, wie es bis in die jüngere Vergangenheit, durchaus in die 50er und 60er Jahre hineinragt. Das ist eine Erzählung über die Freude an der Gewaltausübung, die Lust am kollektiven Abschlachten und den Spaß am gemeinsamen Abfeiern damit zusammenhängender Rituale.
Hinrichtungs-Feiern und Mitmach-Pogrome
Das große Schlachten hat das christliche Abendland seit jeher begleitet, die Wertlosigkeit des Lebens war der DAX der Eroberungskriege und Machtspiele, das Einverständnis der Bevölkerung wurde durch blutrünstige Spektakel, von der Guillotine bis hin zum Mitmach-Progrom erkauft. Es fand im monströsen Nazi-Terror seinen historisch unüberbietbaren Peak und ist seither ausgesetzt. Auch weil anders ein Überleben der Menschheit (dieses Teils der Welt) gar nicht mehr möglich gewesen wäre.
Der individuelle Wunsch sich über das Morden und Schlachten anderer zu definieren, ist weiterhin existent. Sein kollektiver Charakter wurde aber, quasi per Dekret, vor etwa 60 Jahren abgeschafft. Nicht bruchlos, aber mehr oder weniger erfolgreich.
Nun ist es kaum möglich etwas, was seit Hunderten Generationen tief drinsteckt in den Menschen, innerhalb von zwei oder drei Generationen abzutöten. Die Überlieferungen, die alten Reize, Süchte und Sehnsüchte wirken nach.
Die Gier nach Mord und Totschlag, nach Vergeltung und Verhöhnung, nach Erhebung und Gewalt, die Macht- und Rausch-Fantasien, die in den Märchen- und Historienwelten stecken, das alles ist nicht einfach schlagartig weg. Das alles lauert unter einer dünnen Oberfläche.
Die Gier nach real erfüllten kollektiven Gewaltfantasien
Bis in die 50er und 60er hinein konnte man sich in allerlei Gegenden des christlichen Abendlands noch an Hinrichtungen berauschen, wie sie bei der Spinnerin bis Mitte des 19,. Jahrhunderts üblich waren, mit üblen Volksfesten, bacchantisch-ritualisierten Orgien-Feiern. Bis vor historisch vergleichsweise extrem kurzer Zeit war es möglich seine Obsessionen und Fantasien ganz real auszuleben, als direkter Teilnehmer.
Was ist es, was die Menschen seitdem zügelt?
Selbstverständlich ist die Spezies nicht über Nacht klüger oder gar besser geworden.
Man hat sich in einer Art Konkordat darauf geeinigt, das (großflächige) Abschlachten Anderer zu unterlassen, es gesellschaftlich zu ächten (erstmals in der Menschheitsgeschichte) und es auch nicht mehr als reizvollen Spielball zur Kontrolle kollektiver Gelüste einzusetzen.
Was ist an die Stelle dieser gewaltigen Mächtigkeit getreten?
Sicher keine philosophische Einsicht. Vielleicht die Konsum-Droge des Kapitalismus. Ein Teil des Deals war, dass alle, auch das für alles bereite Lumpenproletariat oder das gefährlichste Wesen des Planeten (der junge männliche Erwachsene), daran teilhaben können.
Aufgelöste Gesellschaftsverträge und neue Optionen
Was wird geschehen, wenn dieser Gesellschaftsvertrag sich auflöst, wie es gerade passiert? Wie sollen die Unterschichten künftig solidarisiert und befriedet werden? Früher ist das durch Kriege, Pogrome oder selektive Ausstellung der Macht struktureller Gewalt passiert. Das sind altbewährte menschliche Rezepte, die auch künftig zur Anwendung kommen können.
Wer sagt mir, wer garantiert uns, dass die erst- und einmalige Einigung auf Einstellung des allergröbsten Abschlachtens von vor einer Handvoll Jahren here to stay ist? Neue Allianzen in einer Welt, in der Konzern-Loyalitäten die zu Nationalstaaten ersetzen, können diese Verträge jederzeit auflösen.
Der Weg zurück in die grausame Welt der Grimm-Märchen, der Weg zurück in die Welt der Spinnerin ist keine Unmöglichkeit, er ist eine Option.