Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "Der Sumpf-Jahresrückblick"

Thomas Edlinger

Moderiert gemeinsam mit Fritz Ostermayer "Im Sumpf".

25. 12. 2011 - 23:59

Der Sumpf-Jahresrückblick

Drei Notizen zum Wahn der Zeit und der übliche Listenwahn.

1) Macht kaputt, was euch kaputt macht?

Am Triple A hängt, zum Triple A drängt doch alles. 2011 war das Jahr, in dem das Prinzip Casting-Show auf Staaten und ganze Wirtschaftsräume wie die EU übergriff. Wer gibt sich am meisten Mühe, wer ist der Klotz am Bein, wer hat die beste Performance, wer kann Publikum und Märkte überzeugen, wer kriegt das beste Rating von der Jury?

Wer nicht zum Star im eigenen Film oder gar zum faulen Griechen erklärt wird, fühlt sich schnell einmal minderwertig, überflüssig und entwürdigt. 2011 war auch das Jahr, in dem viele ahnten, dass es nicht mehr reicht, Häuser zu besetzen und sich so private Freiräume zu schaffen. Stattdessen ging es um Besetzung von öffentlichen Räumen und öffentlichen Meinungen. In der Wall Street picknickte die außerparlamentarische Opposition, die von einer von der Finanzwelt gedemütigten Politikerklasse Szenenapplaus bekam. Selten noch war Protest so gut angesehen in den Parlamenten und Präsidentenhäusern. Sollte uns das optimistisch oder eher skeptisch stimmen?

Balam Acab: Wander/Wonder

Balam Acab: Wander/Wonder

Thomas Edlingers Nummer 1: Balam Acab: "Wander/Wonder"

Dem arabischen Frühling folgte ein britischer Sommer. Designerturnschuhe waren die Trophäen. Der konservative britische Premier David Cameron spielte in einem Zeitungsartikel den Hobbysoziologen und diagnostizierte „ein Abnehmen des Verantwortungsgefühls, ein Ansteigen der Selbstsucht, ein wachsendes Gefühl, dass individuelle Rechte über alles andere gehen.“ Das Hohelied auf die Egozentrik ist freilich selbst nur das Echo des neoliberalen Säbelrasselns, mit dem Camerons Vorgängerin Margaret Thatcher schon in den 80er Jahren den Ton angab. Damals ging es genau um die Befreiung des autonomen Individuums aus der Wiege des Wohlfahrtsstaats, der als nanny state verspottet wurde. Von einer Gesellschaft war aber schon damals nicht mehr die Rede, höchstens vom Irrglauben an eine so benannte Zwangsjacke. Thatcher sah außerhalb des Wohnzimmers nur eine ideologische Fiktion, ein schwarzes Loch des Sozialen: „There is no such thing as society.“ Die plündernden Kids mit den Hoodies haben also nur brav ihre Lektion gelernt und die Konsequenzen aus der vorgebeteten Verabschiedung von der Gesellschaft gezogen. Sie sind das Produkt einer Demokratie, die das Individuum zum höchsten Souverän gemacht hat.

Welche Rolle spielt dabei der Soundtrack? Der BBC-Redakteur Paul Mason sah in den Studentenprotesten in London vor einem Jahr eine „Dubstep-Revolution“ am Werk. Die Sound-Systems spielten Grime und Dancehall-Tracks, aber auch charttauglichen R & B wie Rihanna. Wo aber war der gute alte Protestsong?

Matana Roberts: Coin Coin Chapter One: Les Gens De Couleur Libres

Matana Roberts: Coin Coin Chapter One: Les Gens De Couleur Libres

Fritz Ostermayers Nummer 1: Matana Roberts: "Coin Coin Chapter One: Les Gens De Couleur Libres"

Es gibt gute Gründe, anzunehmen, dass er genauso tot ist wie jene Politik, die man einst beeinflussen wollte. So wie wir heute oft von Postpolitik sprechen und damit die heutige Simulation von Politik durch polizeiliches Verwalten bezeichnen, so könnte man vielleicht von postpolitischer Musik sprechen. Diese würde nicht mehr an die Politik mit großen P, sondern höchstens an die Mikropolitiken der Nacht glauben. Ihr eklektizistischer, hybrider und/oder queerer Charakter ist Stärke und Schwäche zugleich: In postpolitischen Zeiten kann es keinen neuen Dylan mehr geben, aber den Ersatz dafür kann auch kaum jemand mehr an die Leine nehmen.

2) Wir haben einen Knacks

Die Plattennadel wurde im letzten Jahr in vielen Tracks zum Fetisch, der Vergangenheit nicht nur aufruft, sondern teils auch als verlorene Zukunft codiert. Es spukte buchstäblich in der Musik der Gegenwart - nicht nur dort, wo Hauntology oder Hypnagogic Pop draufstand. Geister wurden beschworen; die Soundbibliotheken im Computer und die Soundclouds im Netz halfen dabei, sie affektiv aufzuladen. Nicht ohne Grund heißt ein schon etwas älteres Album des Rillenknackserfans The Caretaker „The Future is no longer what it was“. Lana De Rey, der sehnsüchtig im Netz herbeigeklickte Superstar von 2012, inszeniert sich so, als würde sie Sharon Stone im Casting für Martin Scorseses „Casino“ ausstechen wollen. Gleichzeitig aber, und das macht den Reiz dieser Figur aus, klingt die Musik wissend und naiv zugleich. Ihr somnambuler Hit "Video Games" ist so sexy und kaputt wie ein Tagtraum in einem Amerika, dass es nicht einmal bei David Lynch gegeben hat.

Die Retromania war dieses Jahr, dank des gleichnamigen Buchs von Simon Reynolds, der Stichwortgeber, wenn es um die Lage von Pop ging. Die Diagnose der Revivalmoden und der Ennui über die seit Techno und HipHop angeblich ausbleibenden Revolutionen können da freilich nur den Anfang einer Diskussion bilden. Pop war immer schon nostalgisch und neu zugleich, von Elvis' Anleihen beim schwarzen Blueserbe über den Zitatpop seit Roxy Music, vom Garagenrock-Wertekonservativismus von Punk bis zur Denkmalpflege im Neo-Soul, von der Verwendung des geschichtsbewussten Samples im damals brandneuen Oldschool-HipHop bis zum Ahnenkult in einer verwehten Zukunftsmusik namens Techno. Die Popmusik, so unmittelbar sie auch wirken will, verständigt sich schon lange über sich selbst. Je reichhaltiger die Geschichte, desto komplizierter wird dieses Verhältnis von Neuerfindung und Rückbezüglichkeit, Fortschritt und Tradition. Man könnte sagen: Popmusik ist, ob sie will oder nicht, genauso so erwachsen geworden wie andere Künste auch.

3) Der Geschmack stinkenden Käses

Noch etwas fiel dieses Jahr auf. Es hatte ebenfalls viel mit Referenzen zu tun: Musik als Kritik und Neubewertung anderer Musik. Kritik will im System Pop immer auch genossen werden können – deshalb fiel manches davon sehr ambivalent aus. Oneohtrix Point Never zum Beispiel verlustierte und verging sich auch dieses Jahr an den Erhabenheitskoketterien der Synthesizerzampanos. Man könnte auch sagen, hier arbeitet sich jemand am Eso-Potential dieser „Orgel für elektronische Atheisten“ ab , versucht zu retten, was zu retten ist, und schreibt um, was nicht mehr zu wiederholen ist.

Cheesy Sounds (dieses Kaminleopardenfellsaxofon!) können wirklich ganz schön kaputt sein, weshalb das sich hinterfotzig einschleimende Album des 80er Jahre De- und Rekonstrukteurs Destroyer ruhig auch so heißen soll. Ist solche „kaputt“ geglättete und polierte Musik Teil der Lösung oder ist die Musik Teil des Problems?

James Ferraro geht einen andere Weg: Er verdichtet und verschärft die Klänge unserer technischen Environments im Gameboy-Electromodus bis zur Nervgrenze. Ferraro werkt auf seinem Album "Far Side Virtual" nicht nur mit den neuerdings so beliebten Erinnerungsschnipseln aus dem kollektiven Gedächtnis der Massenmedien und Archive, sondern bezieht sich auch auf die geläufigen Sounds der technisierten und medialisierten Gegenwart, wie sie uns aus den Konsum-Schnittstellen, aus den hochfahrenden Computern, aus den Videospielen, den Handies und aus den Shopping Malls entgegenschallen. Das avancierte und verdichtete Programm zur Subversion der Klangzumutungen kann aber auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch ein noch so gewitztes Update von Culture Jammern wie Negativland die Penetranz des Klangs seiner Bausteine nicht abschütteln kann.

four tet-plattencover

four tet

Die Nummer 1 von Katharina Seidler: Four Tet - Pyramid

Kommen wir deshalb zu dem Stoff, den wir dieses Jahr nicht nur einmal gehört, sondern auch gemocht haben. Wie jedes Jahr haben wir wieder gemeinsame Sumpf-Charts zu erstellen versucht – diesmal gab es sechs gemeinsame Nennungen. Sechs ist nicht nichts, aber auch nicht genug, um es mit dem Gardemaß der Top-15-Alben aufnehmen zu können. Deshalb nun unsere Einzelwertungen – und natürlich die Wertung der Dritten im Bunde, der Sachverwalterin der Unordnung der Dinge, Katharina Seidler.

Die Im Sumpf-Jahrescharts von Fritz Ostermayer:

  1. Matana Roberts - "Coin Coin Chapter One: Les Gens De Couleur Libres"
  2. Colin Stetson - "New History Warfare Vol. 2: Judges"
  3. EMA - "Past Life Martyred Saints"
  4. Seefeel - "detto"
  5. Future Islands - "On The Water"
  6. Tarwater - "Inside The Ships"
  7. Shabbaz Palaces - "Black Up"
  8. Julia Holter - "Tragedy"
  9. Pat Jordache - "Future Songs"
  10. Emika - "detto"
  11. The Field - "Looping State Of Mind"
  12. Forest Fire - "Staring At The X"
  13. James Blake - "detto"
  14. Serengeti - "Family And Friends"
  15. Jacaszek - "Glimmer "

Die Im Sumpf-Jahrescharts von Katharina Seidler:

  1. Four Tet - "Pyramid "
  2. Rustie - "After Light "
  3. Moomin - "You "
  4. Sixtus Preiss - "Untitled 1 (Aah) "
  5. Jamie XX - "Far Nearer "
  6. Rick Poppa Howard - "Do what you have to do "
  7. Anstam - "Baldwin "
  8. Blawan - "Getting me down "
  9. Nicolas Jaar - "Why didnt you save me "
  10. Joe Goddard feat Valentina - "Gabriel "
  11. SBTRKT - "Pharaohs "
  12. Aquarius Heaven - "Interview "
  13. Brawther - "Do it yourself "
  14. Jonsson/Alter - "Djup House "
  15. Rumpistol - "Talk to you (System Remix)"

Die Im Sumpf-Jahrescharts von Thomas Edlinger:

  1. Balam Acab - "Wander/Wonder"
  2. The Weeknd - "Thursday & House of Balloons"
  3. And Stott - "Passed Me By & We Stay Together"
  4. John Maus - "We Must Become The Pitiless Censors Of Ourselves"
  5. Matana Roberts - "Coin Coin Chapter One - "Les Gens De Couleur Libres"
  6. Peaking Lights - "936"
  7. Seefeel - "detto"
  8. The Field - "Looping State Of Mind"
  9. Serengeti - "Family And Friends"
  10. Pat Jordache - "Future Songs"
  11. The Roots - "Undun"
  12. Ghostpoet - "Peanut Butter Blues and Melancholy Jam"
  13. Colin Stetson - "New History Warfare Vol. 2 - "Judges"
  14. Leyland Kirby - "Intrigue % Stuff Volume 1 and 2"
  15. Laurel Halo - "Hour Logic"