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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

22. 12. 2011 - 23:37

Journal 2011. Eintrag 232.

Der Kampf der Kulturen, nein, der Religionen, oder nein, der Denkmodelle. Eine Fremd-These.

2011 ist Journal-Jahr - wie schon 2003, 2005, 2007 und 2009. Das heißt: Ein täglicher Eintrag, der als Anregungs- und Denkfutter dienen soll, Fußball-Journal '11 inklusive.

Hier finden sich täglich Geschichten und/oder Analysen, die ich als passionierter Medien-Konsument selber gern gelesen/-sehen/-hört hätte, aber nirgendwo (oder nur unzureichend) finden konnte; und deshalb selber ausforschen und durchdenken muss.

Heute mit einer durchaus gewagten These eines Bekannten. Zufällig hat es, kurz vor Weihnachten, mit Religion zu tun. Obwohl: auch nicht wirklich. Eher was mit eingefrästen kulturellen Mechanismen. Und dann auch damit, dass sich auch andere manchmal wundern, wenn auf der Hand liegende Themen einfach nicht behandelt werden.

Es war ein anderes Gespräch bei der bereits gestern erwähnten Weihnachtsfeier, und es war wieder eines mit einem Kenner, und wieder war es kein Journalisten-Kollege, nennen wir ihn Fritz.

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Fritz vertrat eine These und obwohl ihm schnell klar wurde, dass ich sie nicht teilen würde, war ihm klar, dass ich eine spezielle Tatsache interessant finden würde. Dass diese seine, nicht komplett absurde und nicht von der Hand zu weisende Herstellung von kulturellen Zusammenhängen nirgendwo thematisiert worden ist. Zumindest nicht in Österreich oder Deutschland, das hatte Fritz recherchiert. Und er hat recht: Da beginnt es dann interessant zu werden.

Denn: Die Nicht-Thematisierung einer Angelegenheit, die zumindest als Debattenanstoß diesen könnte, die ist verdächtig. Manchmal passiert das durchaus absichtsvoll, wie im Fall Wulff, meist liegt es an der Oberflächlichkeit der Branche und der durch die ökonomische Krise des Journalismus verursachte Krankheit nicht mehr hinter die Dinge sehen zu können (keine Zeit, keine Ressourcen) und zu wollen.

2

Fritz jedenfalls meint, dass die Krise in Europa, der Riss in der gemeinsamen Euro-Zone, letztlich auf einen Kampf der Kulturen zurückzuführen ist - sogar auf einen Kampf der Religionen. Fritz glaubt an einen Schlag, den der Protestantismus gegen den Katholizismus führt.

Bevor jetzt alle ohnmächtig zusammensacken: Dabei geht es nicht huntingtonmäßig tatsächlich um konfessionelle Konflikte, sondern um Verhaltensmuster, die sich aus jahrhundertlangen Traditionen, Haltungen und regionalen wie nationalen Kulturentwürfen, aus unterschiedlichen Interpretationen entwickelt haben. Letztlich manifestiert sich das zuallervorderst im mächtigen Instrument der Sprache.

3

Der protestantische Norden erklärt dem katholischen (und orthodoxen) Süden, dass es seine moralische Pflicht wäre, die Kultur der Schulden zu beenden. Sie zu begleichen, die Schuld. Also die Schulden, aber eben auch die Schuld. Die Schuld der nicht-korrekten Haushaltsführung.

Wortführerin dabei: Deutschland und die sehr protestantische agierende Merkel/Schäuble-Regierung, deren Idealbild die schwäbische Hausfrau ist, die nicht mehr ausgibt als sie einnimmt. Mit dabei: das laizistisch geprägte Frankreich.
Das anglikanisch-protestantische England ist sich zu gut, um an der Debatte überhaupt teilzunehmen.
Opfer: die leichtlebigen Katholen (Iberer, Italiener, Iren, ...) und die südosteuropäischen Orthoxen, also vor allem die Griechen.

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Vor allem die Sprache der reichen Nord-Cousins den armen Süd-Verwandten gegenüber sei verräterisch, meint Fritz, als ob man Luther oder Calvin predigen hören würde.

Mein Einwurf: Der Begriff der Schuld ist nirgendwo stärker verankert als im Katholizismus. Die gesamte Macht der Amtskirche basiert doch auf dem ständigen Schüren von Ängsten und der Organisation von Verbindlichkeiten, alles im Namen von Erbsünde und Schuldgefühlen.

Ja, sagt Fritz, stimmt im Prinzip. Nur: In Katholizismus ist das alles verhandelbar. Von Schuld kann sich der Kathole freikaufen, zehn Ave Maria und ein Ablass-Handel, vom Mittelalter bis hin zur Scheiße mit dem Emissionshandel etwa. Im Prinzip ist alles am Katholischen zwar schuld- und sündhaft, es wird aber nichts so heiß gegessen wie gekocht.

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Im Protestantismus wird zwar nicht so viel an mystischem Brimborium getrieben, dafür herrscht ganz klares Bekennertum. Wer Scheiße baut, tritt vor, bekennt und zieht die Konsequenzen - innerhalb eines liberalen Denksystems ist das immer human, aber eben korrekt. Im katholischen Süden wird verhandelt und ausgesessen. Schuld wird massiv beklagt, aber durch die immanente Verzögerungs-Strategie gibt es kaum jemals Konsequenzen, egal ob bei Berlusconi oder bei Grasser.

Das spräche aber doch dafür, hier Stellung für diesen konsequenten, kulturellen Protestantismus zu beziehen, vor allem hier im katholischen Österreich, in dem so massiv unter dieser Verschluderungs-Unkultur des bewusst Diffusen gelitten wird.

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Moment, sagt Fritz, dazu später. Wichtiger ist, angesichts der EU-Krise wohl eher die Tatsache, dass mit den Mitteln der schwäbischen Hausfrau nichts erreicht werden wird außer einer bewussten Spaltung, die ganz im Sinn der Interessen der Konzerne, der Rating-Mafia und der anderen amerikanisch (also noch puritanischer als protestantisch) geprägten Wirtschaftsplayer wäre. Um einen erratischen EU-Block zu sprengen. Für den, so absurd das klingen mag, der katholische Ökonomie-Ansatz der sinnhaftere und effektivere wäre. Vor allem in Krisenzeiten, aber auch sonst.

Weil aber gerade jetzt, in der (großteils virtuellen, herbeiimaginierten und von außen initiierten) Krise der alte Kampf der Kulturen aufbricht, wird die puritanische Sauberkeit, also die keimfreie Hütte, über das schleißige System von Geben und Nehmen, also den Schlamm, in dem Kinder spielen müssen, um sich abzuhärten, gestellt.

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Und lustigerweise fällt diese Sichtweise kaum auf.
Wenn Deutschland als Schuldeintreiber und Zeigefinger-Moralapostel daherkommt, dann bekommen seine Vertreter die Nazi-Keule und den Bismarck-Spitz aufgesetzt. Dass man hier in Wahrheit alte protestantisch geprägte Muster auffährt, um den "anderen" zu zeigen, wie deppert sie nicht sind, ist nirgendwo Thema.

Und das wäre, sagt Fritz, vor allem in Österreich, und da vor allem in den tiefsten Regionen seiner Vorwurfs-Kultur, den Boulevard-Medien, völlig grotesk und krank.
Dort wird nämlich letztlich das, was in Deutschland vorformuliert wird (und dort aus der protestantischen Grundhaltung heraus Sinn macht) einfach nur nachgeplappert: Man wettert gegen die "anderen", die schlamperten Katholiken.

Ohne zu erkennen, dass man das ja selber ist.

8

Österreichs Politik- und Ökonomie-Verständnis repräsentiert, in all seiner strukturellen Korruption und erkenntnislosen Verfasstheit genau das, was dem katholischen Süden zum Vorwurf gemacht wird.
Nicht ökonomisch, sondern haltungstechnisch. Die österreichischen Ostgeschäfte, der große Boom-Faktor der letzten Jahrzehnte etwa, fußen ausschließlich auf den zutiefst unprotestantischen Fähigkeiten sich zu arrangieren, Schuldfragen zu umgehen, auf der (auch wichtigen) emotionalen Ebene zu kommunizieren.

Dass es in Deutschland, wo der Protestantismus so stark in Institutionen und Menschen hineinwirkt, nirgendwo eine Debatte über diese Hintergründe der aktuellen EU-Konfliktsprache gibt, das sei nachvollziehbar, meint Fritz. Im Wald sieht man keine Bäume. Dass aber in Bayern und vor allem in Österreich die bigotte Abschottungs-Denke zwischen "uns" und "den anderen" verhindert, dass hier nachgedacht wird, sei ebenso lehrreich wie unverzeihlich.

Ich weiß, Fritzens These hat ihre Lücken.
Aber ihr Ausgangspunkt ist legitim, ihre Basis ist überlegenswert und ein zumindest kurzes Nachdenken drüber nötig.