Erstellt am: 23. 12. 2011 - 09:22 Uhr
Ein böses Märchen aus der DDR
Es war einmal die Bildhauerin Käthe, die hatte vier Kinder. Die jüngeren Zwillinge hatte sie ins Heim gesteckt und alsbald vergessen. Die beiden älteren Geschwister, Thomas und Ella, mussten sich um ihren Haushalt kümmern, und blieben ansonsten sich selbst überlassen. Als glühende Sozialistin hatte die Käthe nämlich Wichtigeres zu tun, als ihren mütterlichen Pflichten nachzukommen - denn wer im Staatsauftrag mit Hammer und Meißel Denkmäler schlägt, hat für verzweifelten Eifer nach Liebe und Anerkennung weder Augen noch Ohren.
Interessanter Zufall: Bruder und Schwester gegen DDR und Rabenmutter ist auch das Thema in Angelika Klüssendorfs jüngstem Roman "Das Mädchen".
„Mit rotem Buntstift malte Ella ein Herz auf einen Zettel, darin zwei ineinander verschlungene kleinere Herzen. Sie wickelte die Botschaft in die grün-weiße Serviette, die Käthe gerne benutzte. (...) Käthe setzte sich und rollte ihre Serviette aus, die Herzbotschaft segelte unbeachtet auf den Boden, sie steckte sich die Serviette oben in den Pullover, wie ein Lätzchen, und stieß ihren Löffel in den Teller. Kann denn nicht mal jemand die Suppe heiß machen?“
Klassenkampf vs. Mutterpflichten
S. Fischer Verlag
Käthe redet vom Klassenkampf, behandelt allerdings ihre eigenen Kinder wie Knecht und Dienstmagd. Im Verlauf der Geschichte trägt die Autorin dann aber doch recht dick auf. Die Mutter lässt ihren Nachwuchs hungern, denkt sich sadistische Strafen aus, schaut weg, wenn die Tochter von Stiefvater und Stasi-Offizier vergewaltigt wird, lässt den Sohn nackt Modell stehen und ihn beim Arbeitspraktikum im Steinbruch fast zugrunde gehen.
In ihrer Unbarmherzigkeit erscheint die Figur fast wie eine Hexe oder böse Stiefmutter aus dem Märchen.
Tatsächlich ist sie Julia Francks eigener Großmutter nachempfunden. Ingeborg Hunzinger (1915-2009) war anerkannte Bildhauerin in der DDR und auch sie hatte ihr Leben ganz dem Sozialismus verschrieben. Doch auch wenn die Biographien der realen und der literarischen Persönlichkeiten deutliche Parallelen aufweisen - beide werden als Jüdinnen während des Nationalsozialismus von der Universität verbannt und gehen nach Italien ins Exil - sollte man sich hüten, die Darstellung im Buch für bare Münze zu nehmen.
Familiengeschichte als Inspiration
Mathias Bothor / photoselection
Julia Franck, Jahrgang 1970, gelang ihr großer Durchbruch mit "Die Mittagsfrau", in der sie die Lebensgeschichte ihres Vaters verarbeitet. "Rücken an Rücken" ist ihr fünfter Roman.
Anders verhält es sich mit der Figur des Thomas. Vorlage für ihn war Gottlieb Friedrich Franck, Hunzingers Sohn und damit Onkel der Autorin, der sich 1962 als 18-Jähriger das Leben nahm. Julia Franck hat zahlreiche Gedichte aus seinem Nachlass in "Rücken an Rücken" einfließen lassen, und dessen Leiden unter der starren Ideologie von Mutter und Staat auch zum zentralen Aspekt in Thomas' Persönlichkeit gemacht.
"Wie sollte er ihrem Spott, ihrer Strenge und Liebe etwas entgegnen, ihr sagen, dass er sie im Irrtum sah, dass er ein eigenes Leben suchen wollte? Als Schlosser steh' ich im Werk, da schweiß' ich Traktoren und Achsen und niemand fragt nach Talent. Talent ist gefährlich, einer könnte etwas wollen, etwas gestalten wollen. (...) Meine Gedichte haben mit euch nichts zu tun - ich will schreiben, ich will raus."
Ab dem Moment, wo sich die Geschichte auf Thomas fokussiert und seine Zweifel gegenüber der DDR-Politik darlegt, wird der Roman stärker. Durch seine Augen erscheint auch endlich die Figur der Käthe differenzierter. Kränkungen und Schicksalsschläge, die ihr widerfahren sind, entschuldigen zwar nicht ihr Verhalten, erklären aber zumindest ihre Überzeugung, dass nur Härte und Leistungsorientiertheit einem Menschen seine Daseinsberechtigung verschaffen.
Zu guter Letzt baut Julia Franck in den abschließenden Kapiteln noch eine tragische Liebesgeschichte ein. Thomas trifft auf die Krankenschwester Maria, die aufgrund der politischen Strukturen auch in einer privaten Hölle gefangen ist - und so wird aus dem Buch, das sich nicht entscheiden kann, ob es Schauermärchen oder Gesellschaftsroman sein will, doch noch eine berührende Lektüre für die Feiertage.