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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

19. 12. 2011 - 23:32

Journal 2011. Eintrag 230.

Vom Wutbürger zum Leberkäswappler.

2011 ist Journal-Jahr - wie schon 2003, 2005, 2007 und 2009. Das heißt: Ein täglicher Eintrag, der als Anregungs- und Denkfutter dienen soll, Fußball-Journal '11 inklusive.

Hier finden sich täglich Geschichten und/oder Analysen, die ich als passionierter Medien-Konsument selber gern gelesen/-sehen/-hört hätte, aber nirgendwo (oder nur unzureichend) finden konnte; und deshalb selber ausforschen und durchdenken muss.

Heute mit österreichischen Zwergen, deren Schatten überinterpretiert werden, vom Wutdüringer bis zum Wurstbürger.

Natürlich ist Wutbürger nicht gleich Wutbürger.
Der bürgerliche, fast schon reaktionäre Stuttgart 21-Protest, der den Begriff im deutsprachigen Raum prägte, unterschied sich schon im Vorjahr drastisch von anderen Aktionen des zivilen Ungehorsams.

Natürlich trifft die Begrifflichkeit des Wutbürgers weder auf die Aufständischen im arabischen Raum, noch die Studenten in Spanien, Portugal oder Chile, weder die Occupy-Bewegung, noch die Anonymous-Aktivisten so wirklich zu.

Für Österreich, wo die substanzielle Basis für all das, eine funktionierende Zivilgesellschaft nämlich, fehlt, kanalisierten bislang vor allem Schnutenbürger, also beleidigte Ex-Politiker, den außerparlamentarischen Widerstand - was gleichzeitig dann wieder Ursache dafür war, warum das potentiell wichtigste Vehikel, das Bildungs-Volksbegehren, unter den Erwartungen blieb.
Das auch deshalb, weil sowohl die Occupy-, als auch die Anonymous-Aktivisten das bleiben, was sie sind: eine kleine geschlossene Gruppe.

Wo sich die widerständische Mangelgesellschaft zeigt

Dieser widerständische Mangel, der sich in Österreich letztes und auch dieses Jahr überdeutlich manifestiert hat, ist der Grund dafür, warum dann Nicht-Ereignisse und schierer Blödsinn zu etwas aufgeblasen werden müssen. Damit versichert sich der gesellschaftliche Mainstream dann, dass "man eh auch irgendwie" mit dabei war.

Dass es sich beim Wurst-Helden um eine ehemalige Goldman Sachs-Grösse handelt, die aktuell als Investment-Banker mit eigenem Hedgefond agiert, setzt der Absurdität die Krone auf. Und ermöglicht es den rechtsextremen Strache-Unterstützer-Plattformen auch noch die Ostküsten-Karte zu spielen...

Natürlich ist ein Angetrunkener, der bei einer geschlossenen Gesellschaft, bei der man mit der Anwesenheit von politisch anstrengenden Menschen kalkuliert, mit Eiswürfeln, Wurst- oder Leberkäs-Semmeln (je nach Quelle) nach einem feschen Parteichef wirft, kein Aktivist, sondern ein Angetrunkener, ein Verhaltensauffälliger.
Der sich damit den Applaus der (mittlerweile auch auf Facebook angesiedelten) Stammtische holt, und damit nur die Traditionen der windigen Raunzerei fortsetzt, mit nur leicht angespitzten Mitteln.

Im Vergleich dazu sind die mittlerweile schon legendären Torter politisch beredte Kommentatoren. Weil sie ihre Texte selber gestalten.

Traditionelle Sprachlosigkeit und Eigentextarmut

Wenn hingegen der zutiefst unpolitische Kabarettist Roland Düringer hochöffentlich einen Text aus einem nur scheinbar unpolitischen Buch von zwei neoliberalen Autoren, deren Ziel es ist zum Rückzug ins Private und aus der Politik aufzurufen (auch weil sich derart vereinzelte leichter beherrschen lassen), zitiert, und das einen heulenden Erolg im Resonanzkörper der Mainstream-Gesellschaft erzielt, dann ist das nicht mehr als ein peinlicher Abschreib-Fehler.

Denn dieselben Zitate laufen auch bei den selbsternannten Kontrollbürgern aus der Kronen-Zeitungs-Leserbrief-Seite auf. Und meinen dort, unter nur leichter Weglassung bzw. Hinzufügung das Gegenteil dessen, was Düringer in seiner naiv abgefeierten Wutrede angerissen hat. Oder auch wieder nicht. Das lassen die vielen Deutungsmöglichkeiten mittlerweile schon nicht mehr zu.

Die erregte Fluch oder Segen-Debatte ist aber insofern komplett uninteressant, als sie ja nur nachgeplapperte Sprüche aus einem (auch politisch) kalkulierten Lebensberater-Buch besprechen.

Die alte Vorliebe für Witzeerzähler und Schnapsnasen

Dort trifft der Wütdüringer den Wurstbürger: in der Absenz von eigener Überlegung oder Überzeugung, der die Absenz einer performativen Umsetzung folgt.

Der österreichischen Mainstream-Gesellschaft, von den Krone-Profi-Leserbriefschreibern bis zu den Profi-Performern, die sich weiter in ihren Genre-Burgen verstecken, schaudert es wohlig bis schaurig, wenn sie sich von Anonymous ausgespäht und von Occupy angezogen, aber ästhetisch gar nicht vertreten fühlen - wirklich angemacht werden sie aber von unpolitischen Wirtshausaktionen, egal, ob vom Wuchteldrucker oder von der Schnapsnase.

Das erzählt deutlich mehr über das Wehrhaftigkeits-Potential Österreichs als die diversen kursierenden Wutbürger-Zuschreibungen.