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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

15. 12. 2011 - 20:19

Journal 2011. Eintrag 228.

"Time" und die Weiterführung des "You".

2011 ist Journal-Jahr - wie schon 2003, 2005, 2007 und 2009. Das heißt: Ein täglicher Eintrag, der als Anregungs- und Denkfutter dienen soll, Fußball-Journal '11 inklusive.

Heute mit der unbeeinspruchbaren Person des Jahres.

Zugegeben: oft hat diese Wahl genau keine Bedeutung.
Ich erinnere mich an den kalten Lacher, der mir entfahren musste, als ich das Sieger-Bild von 2005 gesehen habe: "The Good Samaritans", die Altruisten-Combo bestehend aus Bono, Bill und Melinda Gates. Oder mein Entsetzen über Newt Gingrich 1995, über die Gweschäftsleute Grove und Bezos 97 und 99.

Keine Frage: manchmal sah es so aus, als könne man sich den Ehrentitel vom renommierten Time-Magazine als "Mensch des Jahres" gewählt werden, erkaufen.

Klar, es ist keine Sympathie-Wahl: Chiang Kai-shek, Hitler, Stalin, Khomeini, Reagen, Putin und die Bushs - auch die Rogue-Gallery ist vertreten. Es geht um Bedeutung, und die ist subjektiv. Und eine Tochter der Zeit, um den Tiroler Philosophen A. Khol zu zitieren.

Von 25 und drunter bis Apollo 8

Ich kann mich ans Vorjahr erinnern und meinen leisen Ärger darüber, dass Mark Zuckerberg Julian Assange vorgezogen wurde. Damals, zum Jahreswechsel war klar, wer "wichtiger" war - heute sieht das wieder anders aus.

In jedem Fall hat dieser Titel ohne Preisgeld und Land schon etwas für sich. Und natürlich sind alle Egos enttäuscht, wenn diese Person (bis 2000 war es noch "Man", im Englischen tut man sich da leichter, gendermäßig) kein Einzelner, sondern eine Gruppe ist.
Kam aber immer wieder vor.

Im stark US-zentrierten Weltbild von Time waren es oft amerikanische Schichten oder Gruppen.
Die Soldaten (zweimal schon), die Wissenschaftler (rechtzeitig zur H-Bombe und zur Raumfahrt), die Apollo 8-Besatzung (gar nicht 11 oder 13... ), die US-Frauen angesichts der Emanzipations-Bewegung, aber auch der Durchschnittsamerikaner. Der bestimmte Time 1969, vielleicht auch als Kompensation für die wagemutige Wahl von "Twenty-Five and Under" 1966.
Schon irre: Jugend als Tugend.

Computer, Whistleblower, Du und dein Anonymous-Alter Ego

Hin und wieder durften auch Ausländer ran, Ungarns Freiheitskämpfer 1956, deutlich verfrüht die Nahost-Verhandler und, auch zu beschönigend, nicht nur Mandela, sondern auch De Klerk.

Es findet sich aber ein logischer Strang in der nichtpersonenbezogenen Historie des Man/Person of the Year

1982 kürte man "den Computer". 2002 wurden drei Whistleblower ausgewählt, die zwar keinen direkten Web-Bezug haben, ihre Praxis aber natürlich anhand der neuen Medien ausrichten. Und 2006 gab es die bislang deutlich verstörendste Ansage: Time bedruckte sein Cover mit einer Art Spiegel und schrieb "You" drüber. Du, also jeder, der am Web 2.0, dem Partizipativ-Instrument schlechthin, teilnimmt.

Time-Cover mit "Person of the Year": The Protester.

time-magazine

Letztlich ist die heurige Wahl, die von The Protester, die direkte Fortsetzung.

Viele derer, die sich vor fünf Jahren in den Spiegel schauen konnten, konnten die machtvolle Symbolik erkennen; einige konnten und wollten das dann auch in eine neue partizipative Praxis umsetzen. Nicht konzertiert, aber konzentriert.

Und natürlich gegen die Interessen der Mächtigen. Zu denen natürlich auch die gehören, die Einflüsse auf Medienhäuser geltend machen können; auch auf Time.

Das Hübsche an dieser Wahl ist aber, dass es hier keine Möglichkeit mehr gab, derlei Intervention zu verhindern. Das "You" hatte allen durchaus noch getaugt: da galt es noch, dem Einzelnen was anzudrehen, Märkte zu erschließen, Ressourcen anzuzapfen.
Dass die Weiterführung des You auch die Gefahr einer echten Emanzipation in sich trug, war ein kleines Restrisiko, part of the game.

You, the Protester

Dass jetzt ein Vermummter vom Time-Cover schaut, und noch dazu einer, dessen Anonymisierung positiv besetzt ist, schreit allen Erwartungen Hohn.

Die von Time ausgewählte Person des Jahres ist oft schon nach kurzer Zeit eine bedeutungslose Fußnote der Weltgeschichte, klar. In diesem Fall geht es aber nicht um das, was sein wird, sondern um eine symbolische Bestätigung dessen, was ist. Durch diese Inthronisierung verpflichtet sich ein Establishment der Ernstnahme; ob es will oder nicht.

Und dieses Cover sorgt dafür, dass sich jeder, egal ob arabischer Revoltierer, südeuropäischer Demonstant oder noch so kleiner Occupy-Heini in Manhattan, Frankfurt oder Klagenfurt der Geste bewusst wird, für die er/sie einsteht/einstehen.

Dieses Cover schreibt den Protest fest. Deutlicher als alle lauwarmen Solidaritäts-Noten aus der Politik, und sowieso deutlicher als die lahmen Reaktionen aus den Konzern-Etagen. Auf dieses Cover kann und wird sich künftig jeder berufen, der ein Anliegen transportieren will.

Ich schätze, es ist das gewichtigste seiner Art seit 1989. Auch wenn die daraus resultierenden Umbrüche genauso schnell absorbiert werden sollten wie damals: die symbolische Wirkung sickert bereits, unaufhaltsam.