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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

14. 12. 2011 - 16:26

Journal 2011. Eintrag 227.

Antarktische Abenteuer. Der Wettlauf zum Südpol als Beförderer einer differenzierten Weltsicht.

2011 ist Journal-Jahr - wie schon 2003, 2005, 2007 und 2009. Das heißt: Ein täglicher Eintrag, der als Anregungs- und Denkfutter dienen soll, Fußball-Journal '11 inklusive.

Heute mit einer Reminiszenz an den Wettlauf zum Südpol.

Ich schätze, dass meine Mutter es irgendwann weggeworfen hat. So wie die alten Micky-Maus-Hefte und die Sammelalben zum Fußball und zu den Karl May-Geschichten, an die ich mich nur ganz düster erinnern kann; die waren wohl aus den 50ern, zwei recht dicke Karton-Karten pro Heftseite, ein Fundstück aus der Schatztruhe eines Onkels.

Das „Wettlauf zum Südpol“-Heft jedenfalls gehört zu dieser ruhmreichen Reihe verschleuderter Kinder-Erinnerungen. Es war kein Schundheft, aber auch kein Buch, eher eine Kurzgeschichte, eine Broschüre, also nichts, was nach „Aufheben und in den Bücherschrank stellen“ aussah. Ich würde heute alle noch verbliebenen Kinder- und Jugendbücher gegen die Hefte und Sammelalben tauschen.

Der Wettlauf zum Pol war nach der vielen Fiktion aus den Märchen- und Mythen-Welten vielleicht meine erste Lese-Berührung mit echter Zeitgeschichte; und das klappte, weil es wie ein Bericht von einem fremden Planeten klang, dem Planeten Antarktis.

Amundsen gegen Scott - 2:1

Der Wettlauf fand genau heute vor 100 Jahren seinen Höhepunkt; wiewohl das ja gelogen ist, eigentlich.
Das dramatische Highlight war nicht der Sieg des norwegischen Expeditions-Teams um Roald Amundsen am 14.12.1911, sondern der Untergang der britischen Konkurrenz-Mannschaft um Robert F. Scott Ende März. Scotts Team hatte den Pol bzw. das dort hinterlassene Zelt Amundsens im Jänner erreicht und schaffte den Rückweg dann nicht mehr.

Scotts Tagebuch des Desasters ist erhalten und liefert seit jeher den Hauptteil der mythologischen Erzählung dieses Fern-Duells. Scotts Schreibe ist zwischen britisch-militärischer Zurückhaltung und emotionaler Entäußerung zerrissen und deswegen eine fantastische Grundlage für jede Abenteuer-Geschichte. Vom kühl-kalkulierenden Amundsen gibt es vergleichsweise wenig, was über das rein Wissenschaftliche hinausgeht. Der Norweger konzentrierte sich deutlich mehr auf die Logistik seines Unterfangens als auf dessen Poesie, wie es Scott - vor allem angesichts der Niederlage - tat.

Ein Duell als Basis für ein gemeinsames Narrativ

Vermutlich auch deswegen gibt es in dieser Wettlauf-zum-Südpol-Geschichte keine strahlenden Helden und keine angepatzten Verlierer, sondern ein gemeinsames Narrativ. In meinem Kopf zumindest, angesichts der auf den Fakten und Aufzeichnungen basierenden Kurzgeschichte.

Ich habe den die Naturgegebenheiten miteinbeziehenden Amundsen ebenso verehrt, wie den in seiner Menschlichkeit scheiternden Scott; ganz ohne jemals ein Fluch-oder-Segen-Urteil fällen zu müssen. Diese (wahre) Geschichte hat mir früh gezeigt, dass solche Hopp-oder-Drop-Entscheidungen eine von außen aufgezwungene Idiotie sind; dass in der Nuancierung deutlich mehr Kraft und Intelligenz steckt.

Scott hatte den Gang zum Südpol offen angekündigt, Amundsen war in einer Art Geheim-Mission hingefahren, um ihn noch abzufangen. Ist der eine deshalb ein Held und der andere ein Schurke?

Scott hatte auf Motorschlitten, ein paar Hunde und Ponys gesetzt, Amundsen voll auf die Huskeys. Amundsen hatte von Anfang an deren Schlachtung einkalkuliert, um die Expedition durchzufüttern; für Scott kam das nie in Frage. Macht das den einen besser als den anderen?

"I am just going outside and may be some time"

Zum Ziel (dem Pol, einem Symbol der Auslotung der letzten Grenzen des Planeten) kamen letztlich beide Teams.

Dass Scotts Mannschaft den Rückweg nicht überlebte, macht eine große Geschichte dann überlebensgroß - so funktioniert unsere Wahrnehmung. Und die letzten Worte von Lawrence Oates, der im Bewusstsein seines nahen Todes in einen Blizzard wankte, um den noch lebenden Drei eine bessere Überlebenschance zu geben, sind überliefert und seither geflügelt: "I am just going outside and may be some time."

Das ist natürlich Stoff für Drama pur.
Dass es auch auf Amundsens Seite wildere Geschichten gab, als sie in meiner Geschichte drinstanden, davon erfuhr man erst in den späten 90ern, als die Rolle von Hjalmar Johansen wieder entdeckt wurde - aktuell ist das durch ein Buch von Reinhold Messner auch in den deutschen Sprachraum vorgedrungen.

Und dann ist da noch der verdrängte Pol-zu-Pol-Fahrer

Johansen, sowas wie der Vegard Ulvang seiner Tage, war Mitglied der Nordpol-Expedition von Fridtjof Nansen, die 1896 knapp scheiterte. Auf Nansens Vermittlung kam Johansen in die Amundsen-Expedition und stieg dort aufgrund seiner Erfahrung schnell zum Gegenspieler des Expeditionsleiters hoch; es kam zu Streit, Bruch und Degradierung. Johansen wurde aus den Expeditions-Büchern getilgt, knapp nach der Rückkehr nach Oslo erschoss sich der Mann, der sowohl am Nord- als auch am Südpol knapp gescheitert war.

Auch damals war die Täuschung rund um die Vermarktung eines Ereignisses schon deutlich wichtiger als die dokumentarische Aufarbeitung des Geschehens. Auch damals war der Schein wichtiger als alles andere.

Trotzdem ist die unklare Rollenverteilung, wer jetzt Held, Schurke, Versager, Retter oder Opfer ist, die große Stärke des großen Südpol-Dramas. Und ein frühes Beispiel zur Stärkung der Differenzierungsfähigkeit, dieser bedeutenden Kraft im alltäglichen Kampf mit der Verschlagzeilungs-Krake.

Heute ist das Abenteuer 4000 Meter unter dem Meer

Die aktuellen Abenteuer-Geschichten schreibt die Antarktis übrigens in 4000 Meter Tiefe. Dort liegt einer der vielen unterirdischen Seen des sechsten Kontinents, der Wostok-See. Eine russische Forschergruppe ist gerade dabei hinunterzubohren, man steht bei den letzten Metern.

Die ersten Proben können Aufschluss darüber bringen, ob sich in diesem seit womöglich Millionen Jahren unberührten Öko-System gänzlich unbekannte Mikroben, Einzeller, Kleinstlebewesen erhalten haben. Was wiederum für die Weltraum-Forschung Erkenntnisse bringt: denn am Jupitermond Europa, einem Eisplanet mit unterirdischen Seen, hofft man ja auch Leben zu entdecken.

Die Bohrungen im Wostok-See sind umstritten, weil die Gefahr der Verschmutzung des See-Systems und seiner Zerstörung besteht, es gibt einen ordentlichen Wissenschafts-Streit, hier die russische Seite; und ein bisschen wird hier die alte Geschichte vom Öffnen einer gefährlich-pandoresken Büchse paraphrasiert (siehe CERN); auch weil wir natürlich "wissen", dass in der Antarktis gerne Dinge aus anderen Welten lauern.

Aber das ist dann wieder eine andere Abenteuer-Geschichte.