Erstellt am: 13. 12. 2011 - 16:15 Uhr
Die Bibel und Comics als einzige Literatur
Craig Thompson/Reprodukt
Das gab es in der Comicwelt noch nie: An einem Tag sind gleich sieben Editionen einer Graphic Novel in den USA und Europa erschienen. Voller Erwartung hat man auf das neue Buch von Craig Thompson gewartet: auf "Habibi".
Von außen erinnert das massive Buch an einen Koran - Rotbrauntöne und Gold, orientalische Ornamente, arabisch anmutende Schriftzeichen. Innen eröffnet sich eine fantastische Welt, irgendwo im Nahen Osten, der genaue Ort und auch die Zeit, in der Habibi angesetzt ist, bleibt ungewiss. Dort lebt das Mädchen Dodola, die als Neunjährige gegen ihren Willen verheiratet wird - mit einem viel älteren Schreiber, der ihr viele Geschichten erzählt und sie schreiben und lesen lehrt.
Craig Thompson/Reprodukt
Habibi ist die arabische Bezeichnung für "kleiner Liebling"
Als der Ehemann umgebracht wird, landet Dodala auf einem Sklavenmarkt. Ihr gelingt die Flucht - großartig gezeichnet - auf der sie auch den kleinen schwarzen Jungen Zam rettet. "Habibi", wie Dodola den Kleinen fortan nennen wird.
Craig Thompson/Reprodukt
Das ist der Anfang einer abenteuerlichen, fantastischen Geschichte, in der Engel, Propheten und Dämonen ebenso ihren Platz finden wie brutale Händler, sexsüchtige Herrscher und versponnene Müllsammler. Habibi hat die Fähigkeit, Wasser in der Wüste aufzuspüren, Dodola hingegen landet als Prostituierte in einem Harem. Dort kommt es zu einem Wiedersehen mit dem zum Eunuchen gewordenen Habibi.
Craig Thompson/Reprodukt
Craig Thompson erzählt die Liebesgeschichte zwischen Dodola und Habibi, die verschiedene Stufen durchläuft - von Mutter-Kind-Liebe zu geschwisterlicher Liebe bis hin zu Liebhabern. Hier die Prostituierte - da der Eunuch. Mit unserer Sexualität schwanken wir zwischen den Extremen, erzählt Craig Thompson im Interview. Manchmal würden wir uns geradezu prostituieren, ein andermal seien wir abgeschnitten von jeder Sexualität, aber wir seien auf der Suche nach einer Balance.
Auf über 650 Seiten spannt Craig Thompson nicht nur das Feld zwischen mehr oder weniger sexuellem Verlangen, sondern auch zwischen Wollen und Haben, zwischen Dürre und Überschwemmungen. Wasser ist einmal mehr ein wichtiges Element bei Craig Thompson. War es bei Blankets gefroren - also Schnee - so ist es jetzt aufgetaut, ist kostbarstes Gut oder überflutet die Lande.
Blankets, einer berührenden autobiographischen Liebesgeschichte
Die größten Überflutungen drohen aber durch den Müll der Menschen. Denn während "Habibi" erst wie ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht und zeitlich schwer zuordenbar wirkt, bringt Craig Thompson später einen unangenehmen Realitätsbezug zu unserer Wegwerfgesellschaft ein. Erst sind es vereinzelt herumliegenden Autowracks und Reifen, dann vergiftete Flüsse und Müllberge, die Habibi eine ökologische und eine ökonomische Seite zukommen lassen. "In both of those I am processing American guilt - like a growing awareness of our role as a massive consumer and also an empire in the world. So wherever wealth exists in the world - it’s feasting of a poverty in a different part of the world. For everything that we produce or consume there is also all this waste and somebody has to deal with that. Even though it might be invisible to some degree in Western society, all this garbage is going somewhere."
Craig Thompson/Reprodukt
Sieben Jahre hat Craig Thompson an Habibi gearbeitet, hat sich in die Themen arabische Geschichte und Sklaverei eingelesen, sich ausführlich mit dem Koran und mit Kalligraphie beschäftigt und verarbeitet das alles in wunderbaren Schwarz-Weiß-Bildern. Arabische Muster und Ornamente verzieren detailverliebte Alltagsszenen und prächtige Landschaften.
Mehr Bücher auf fm4.orf.at/buch
Craig Thompson ist nicht nur ein begnadeter Zeichner, sondern auch ein ebensolcher Geschichtenerzähler. "Habibi" ist eine Mischung aus den Erzählungen von Tausendundeine Nacht, dem Koran und der Bibel. Aus diesen Büchern zitiert Craig Thompson häufig und will so Gemeinsamkeiten darstellen. Diese Textstellen lesen sich mitunter aufgesetzt und befremdlich. Und an der einen oder anderen Stelle hätte man sicher auch etwas kürzen können. Wer sich aber auf eine abenteuerliche fantastische Geschichte einlassen will, wird mit "Habibi" seine Freude haben.
Craig Thomspon im Interview
fm4/zita
Craig Thompson ist in einer streng religiösen Familie auf dem Land in Wisconsin aufgewachsen. Nachzulesen in seiner autobiographischen Graphic Novel "Blankets".
In seinem Elternhaus gab es ein einziges Buch: die Bibel - und Comics für die Kinder. Weil es in dem Dorf keinen Comicladen gab, haben Craig und sein Bruder die Comics bei einem Versand bestellt. Schon bald galt ihr Interesse Independent Comics. Manche dieser Hefte haben Craig und seinen Bruder allerdings mit einem unguten Gefühl zurückgelassen, waren diese Inhalte und Zeichnungen inmitten ihrer streng religiösen Umgebung doch ein Ding der Unmöglichkeit. Mehr dazu im Interview mit Craig Thompson zum Nachhören:
Dieses Element ist nicht mehr verfügbar