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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

10. 12. 2011 - 22:52

Journal 2011. Eintrag 224.

Die (zumindest im Westen) unerfüllbare Sehnsucht nach dem 'neuen politischen Song'.

2011 ist Journal-Jahr - wie schon 2003, 2005, 2007 und 2009. Das heißt: Ein täglicher Eintrag, der als Anregungs- und Denkfutter dienen soll, Fußball-Journal '11 inklusive.

Hier finden sich täglich Geschichten und/oder Analysen, die ich als passionierter Medien-Konsument selber gern gelesen/-sehen/-hört hätte, aber nirgendwo (oder nur unzureichend) finden konnte; und deshalb selber ausforschen und durchdenken muss.

Heute mit dem Ausgangspunkt eines kurzgreifenden "Ende der Liedermacher-Ära"-Gewinsels und dem Versuch die Unmöglichkeit der Forderung nach einem neuen politischen Lied zu beschreiben.

Anfang der 80-er, als ich für einige Musik-Magazine und eine Tageszeitung gearbeitet habe (die zum Teil im unterbezahlten Untergrund, zum Teil im normal entlohnten Mainstream daheim waren), hätte der Zufall, dass hintereinander Leute wie Degenhardt, Kreisler und Hirsch gestorben sind, dazu geführt, dass in irgendeiner der aktuellen Redaktions-Konferenzen dieser Medien jemand mit dem reißerischen Thema "Das Ende der Liedermacher-Ära?" angekommen wäre - und prompt den Zuschlag für eine entsprechende Geschichte bekommen hätte. Soviel war damals (weder medial noch musikalisch, noch gesellschaftlich) nicht los, dass so eine kleine "Ende einer Ära!"-Provokation nicht gegangen wäre.

Das ist mir eingefallen, auch deshalb, weil gerade andere (extrem angestaubte) Einfachheiten des redaktionellen Alltags der Früh-80-er (Zugänge und Herangehensweisen) wieder aufpoppen, und so tun als ob sie "frisch" wären.

Huch! Ist das das Ende der Liedermacher-Ära?

Absurderweise knallt mir heute die Cover-Geschichte der Wochenende-Beilage der Süddeutschen genau damit entgegen: mit dem Nachruf auf die Liedermacherei. Mit einem Ansatz, der 1981 womöglich selbst dem Rennbahn-Express und all seinen Fellners zu billig gewesen wäre.

Die Argumentationslinie von Autor Hilmar Klute, einer der Streiflicht-Edelfedern der Zeitung, lässt sich am besten anhand der beiden Zwischentitel erkennen.
(1) Sie standen ein für die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln
(2) Heutige Liedermacher heulen in erster Linie den Herbst an.

Alles klar?
Früher war also alles besser, weil politischer.
Liedermacher gibt es zwar noch, aber sie beißen nicht mehr wie Kreisler oder Degenhardt oder sind nicht mehr so themenriskant wie Hirsch.
Schlußfolgerung: Ende der Ära.
Applaus.

Jetzt aber zum echten Soundtrack der Revolte:

In diesem Zusammenhang darf ich auf eine Geschichte in der Zeit von vor ein paar Wochen umleiten. Die hieß Der Soundtrack zur Revolte und versucht die Rolle der Musik, die die diversen Proteste des Jahres 2011 (von Tunesien bis Occupy) begleitet hat, zu analysieren. Das geht von El Général und seinem "Rais Lebled", das die Jasmin-Revolution mitdefiniert hat, bis zum emotionalen Versagen von Kanye West angesichts seiner Teilnahme an Occupy Wall Street.
Vor allem gibt es da nichts, was alles auf einen Punkt bringt: keinen gemeinsamen Groove.

Allerdings ist die fast schon verzweifelte Sehnsucht nach dem Song, der Melodie, die alles auf den Punkt bringt, ein Alleinstellungsmerkmal des Westens.
Im arabischen Raum, auch in Israel, in Afrika und auch im mittlerweile musikalisch eher der Weltmusik zuzurechnendem Hochdruck-Kochtopf London, hat niemand irgendein Problem mit der Musik, die die Auf- und Widerstände begleitet: sie entstehen, passieren, entwickeln sich, sind slogan- oder trance- oder marschierfähig und somit Teil des Gesamten.

Das geht, weil es ohne einen Rucksack an Abers und Do-Nots daherkommt; weil es auf nichts referenzieren muss.

Der Westen als referenziell zugepflastertes Notstandsgebiet

Im Westen geht das nicht.
Nicht mehr.
Nie mehr.

Das hat nichts damit zu tun, dass die jungen Liedermacher nur noch ihre Introspektivität darstellen, wie es der "Ende einer Ära"-Fehlschuss vorgeben will.
Sondern damit, dass es im Westen unfassbar riesenhafte Role-Models und Vergleichswerte gibt, gegen die anzustinken menschenunmöglich ist. Die Protestkulturen der 60-er und 70-er haben von "We shall overcome" abwärts alle Hits bereits ausgewrungen, die entsprechenden Protest-Ikonen sind unüberwindbar.

Dazu kommt, dass sie (falls sie überlebt haben) mittlerweile sowieso längst Teil der 1%, also Teil des Problems sind. Riesen-Popstars mit den Carbon Footprints einer Kleinstadt sind ebensowenig ungeeignet die "Politik mit anderen Mitteln", künstlerischen nämlich, fortzusetzen, wie Entrepreneure mit Immobilien- und Aktien-Werten und dutzenden außermusikalischen Geschäftsmodellen.

Pop kann Komplex-Unüberschaubares nicht klarmachen

Im Rahmen von Occupy mit Hirsch'scher Hintergründigkeit, Kreisler'schem Zynismus oder Degenhardt'scher Bärbeißigkeit einen musikalischen Beitrag zu leisten, der nicht a) nach altbackenen historischen Vorbildern klingt, b) die Komplexität der aktuellen Probleme halbwegs auf den Punkt bringt und sich c) nicht der altklugen Kategorierung als pubertär-uncooler Amateur-Aktionist aussetzt, ist schlicht unmöglich.

Unmöglich gemacht worden.
Von genau jenen, die jede Widerständigkeit mit aller Gewalt in den Mainstream zerren mussten; und jetzt das Ende einer Ära ausrufen, weil es nicht mehr so ist wie früher.

Anlässe zum Anstimmen guter politischer Lieder, schreibt Klute, gibt es heuer mindestens so viele wie damals.

Wenn er damit die alten Lieder, die heute neu angestimmt werden sollen, meint, dann wäre er der erste, der sich (zu Recht) drüber lustig macht, dass selbst dem vormaligen Rage against the Maschine-Sänger nur "This Land is Your Land" einfällt, wenn er die Wall-Street-Blockierer besucht.
Wer so leichterhand neue politische Lieder einfordert, der ist am Hochstand der späten 70-er festgefroren - da war es Pop zuletzt möglich eine noch überschaubare Weltordnung gerade irgendwie noch abzubilden.

Am Hochstand der Sixties-Überheblichkeit festgefroren

Seitdem hat die gnadenlose Diversifizierung dem allgemeingültigen Sloganeering den Garaus gemacht.
Selbst Könige dieser Zunft wie Tocotronic (Im Zweifel für den Zweifel) können nicht mehr als ein paar der mittlerweile unendlich vielen Stränge zusammenfassen um damit zumindest eine kritische Masse an Menschen gleichzeitig und gemeinsam zu erreichen.

Natürlich sind Liedermacher-Zentren wie das hochbemühte TV Noir nicht im politischen Sinn aktionistisch. Das obliegt, wie mittlerweile fast alles wirklich anarchisch-widerständige, dem Kabarett, der Satire: Die kann ihren Bogen durch Überzeichnung und Zuspitzung deutlich weiter spannen, als das Songwriter je wieder zustandekriegen werden.

Deswegen wird aber nichts und niemand zu Grabe getragen als die drei noblen Herren. Keine Ära, kein Genre, kein Gewerbe.

Maximal das verblassende, patinageschwängerte Anforderungs-Profil einiger Kultur-Bedenkenträger, die sich über solche Wehklagen ihrer Aufgabe entziehen wollen, sich der Komplexität von Zeit und Themenstellung verweigern und lieber mit der Lüge, dass alles immer noch so simpel wie vor 40, 50 Jahren vonstatten geht, leben wollen als sich der Gegenwart und ihrer herben Ausweglosigkeit zu stellen.