Erstellt am: 14. 12. 2011 - 16:21 Uhr
Tagebuch zum Jahr des Verzichts (37)

marc carnal
2011 wird Tagebuch geführt und verzichtet: Monatlich auf ein bestimmtes Sucht- und Genussmittel, auf Medien oder alltägliche Bequemlichkeiten. Jeder Verzicht ist klar eingegrenzt. Es gelten freiwillige Selbstkontrolle und dezenter Gruppendruck unter den Mitstreitern.
Sonntag, 4. Dezember
■ In den Nachrichten auf Radio Wien: “Viele Österreicher leiden an einer seltenen Krankheit.“
■ Der Dezember-Verzicht ist bisher keine große Hürde und wird es auch nicht mehr werden. Seit ich vor zwei, drei Jahren die Freude am Kochen entdeckt habe, esse ich kontinuierlich weniger Junk Food. Die größte Versuchung besteht voraussichtlich im post-alkoholischen Heißhunger, aber viel Zeit für Halligalli bleibt in den nächsten Wochen ohnehin nicht. So egal kann einem Silvester gar nicht sein, dass man nicht im alten Jahr doch noch viel an Hinausgeschobenem erledigt haben möchte.
Montag, 5. Dezember
Vatertag in Thailand
■ Beschließe mit der guten A., gemeinsam regelmäßig Afterwork-Aktivitäten zu absolvieren, die wir beide entsetzlich finden. Den Anfang macht ein Besuch am Weihnachtsmarkt im alten AKH.
A. schreibt mir, sie würde auf mich „beim armen Esel“ warten. Ich interpretiere die Nachricht dahingehend, dass sich am Gelände ein Gasthaus namens „Zum armen Esel“ befindet und frage mich erfolglos durch, weil ich nicht weiß, dass hier seit Jahren ein lebendiges Eselchen die trunkenen Besucher erfreut.
Wenigstens werde ich beim Umherirren Zeuge einer fast handgreiflich werdenden Auseinandersetzung zweier betrunkener Damen, die mit dem Evergreen „Nein, die nächste Runde zahle ich!“ beginnt. Der Satz wird am Ende mit rüden Füllwörtern paraphrasiert, die auf öffentlich-rechtlichen Internetseiten nichts zu suchen haben.
Dienstag, 6. Dezember

(c) Sonja Schöntag
■ Ich wäre gerne ein-, zweihundert Jahre später auf die Welt gekommen. Die Ära der ganz großen Fortschritte der Menschheit wird nach meinem statistischen Tod beginnen. Das kann ich nicht beweisen, nicht einmal gut argumentieren, es ist mehr ein Gefühl. Meine Ururenkel werden den Mars betreten und nicht mehr an Krebs sterben können. Das heißt nicht, dass alles gut wird. Aber es werden große Dinge geschehen. Dagegen werden die digitale Revolution, ein paar interessante CERN-Forschungsergebnisse und was sonst noch in die bescheidene Spanne meines irdischen Gastspiels fällt, ein Lercherlschas sein. Ich würde mir alle Gliedmaßen ausreißen lassen, um in zweihundert Jahren wenigstens für einen Tag noch einmal kurz aufzuwachen.
Mittwoch, 7. Dezember
■ In den Niederflur-Straßenbahnen der Wiener Linien gibt es hinter den Zweier-Sitzenreihen auch einen Einzelplatz, der jedoch nicht zu jener Kategorie gehört, die man körperlich beeinträchtigten Fahrgästen überlassen sollte.
Diese Plätze sind derartig begehrt, dass besonders bei Endstationen waghalsige Manöver zu beobachten sind. Als ginge es um ihre schiere Existenz, hechtet die Hälfte der Einsteigenden in Richtung der Einzelsitze, um sich die populären Plätze mit schier übermenschlicher Anstrengung zu erdrängen oder -boxen.
Auch ich schätze die Solo-Sitzgelegenheit, aber ebenso meine Gesundheit und gebe mich stets von Vornherein geschlagen.
■ Ich finde es nicht verwerflich, öffentlich über Geld zu sprechen und zu sagen, wie viel man verdient. Daher will ich mit gutem Beispiel vorangehen: Ich verdiene viel zu wenig.
Donnerstag, 8. Dezember
"Tag des Studenten" in Mazedonien und Bulgarien
■ Ist es denkbar, einen ganzen Tag lang absolut nichts zu denken, sehen, hören, lesen oder gar zu erleben, das einer späteren Erinnerung, einer Erzählung oder wenigstens eines Eintrags in meinem kleinen elektronischen Tagebuch würdig ist, und trotzdem zufrieden und glücklich in die Daunen zu sinken?
Ja!
Freitag, 9. Dezember
marc carnal
■ ToDo-Liste auf der Festplatte gefunden, die ich vor exakt einem Jahr geschrieben habe. Nur vier von zehn Punkten sind als erledigt markiert. Erkenntnis: Das meiste erledigt sich von selbst.
■ Warum gibt es eigentlich sogenannte Arzttermine, wenn man dann ohnehin zwei Stunden dahinsiechen und tranige Gesundheitsmagazine lesen muss? Könnte man nicht ein SMS-System einführen, das einen je nach vorher angegebener Distanz informiert, wann man schätzungsweise drankommt? In der verrauchtesten Spelunke ist es mit Fieber und Bronchitis angenehmer als in den meisten Wartezimmern.
Samstag, 10. Dezember
■ Es gibt an mancherlei Ecken dieser Stadt durchaus bekömmliches und nicht immer ungesundes Fast Food. Warum sich gerade Pizzaschnitten und Kebab zu den Top-Sellern entwickelt haben, ist mir delphisch. Gerade die Döner-Qualität in Wien ist unterirdisch - ich bin von Salzburg verwöhnt.
■ Finde zu nachtschwarzer Stunde vor der Eingangstür eines Juweliers auf der Währinger Straße ein zugeklebtes, unbeschriftetes, kartonfarbenes Kuvert. Es ist prall gefüllt. Ich blicke mich nach Zeugen um, stecke es ein und gehe angespannt nach Hause. Natürlich denke ich zuerst an eine verunglückte Übergabe einer respektablen Summe in großen Scheinen. Nach hundert Metern finde ich die Vorstellung schon recht plausibel. An der Wohnungstür bin ich bereits von meinem zufälligen Reichtum überzeugt.
Reisegutscheine für einen Zeitungsabonnenten sind meinem rasch ermattenden Herzrasen dann doch etwas unangemessen.
■ Ein Satz mit "Schwangerschaft":
Der Turner, der eben am Balken Schwang-
erschaft das zehn Minuten lang.