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Robert Rotifer London/Canterbury

Themsenstrandgut von der Metropole bis zur Mündung: Bier ohne Krone, Brot wie Watte und gesalzene Butter.

9. 12. 2011 - 20:28

Die letzte Zuflucht des Schufts

Was David Cameron in Brüssel geritten hat.

An sich sollte er es ja besser wissen. Sein Parteikollege, der Autor des ersten englischen Wörterbuchs Samuel Johnson formulierte schon 1775 eine der populärsten Stehweisheiten des britischen Sprachgebrauchs: „Patriotism is the last refuge of the scoundrel“ - der Patriotismus ist die letzte Zuflucht des Schufts.

Im Zusammenhang, sagt man, habe der aufrechte Tory damit bloß den „falschen Patriotismus“ des Opportunisten gemeint, aber das macht sein Zitat bloß noch passender dafür, was sich derzeit in Großbritannien abspielt.

David Cameron

BBC

Gestern hat David Cameron also in Brüssel ein großes Stück außenpolitischer Macht einer patriotischen Geste geopfert. Im nationalen Interesse habe er gehandelt, sagte der Premierminister, als er sogenannte „Safeguards“ - Sicherheitseinrichtungen, Schutzklauseln, wie man will – für die Londoner City einforderte (deren ganz speziellen Status ich neulich hier beschrieben hab).

Der immer wieder für luzide Zwischenrufe gute schottische Krimiautor Ian Rankin hat das heute in einem Tweet so kommentiert:

„Das Vereinte Königreich besteht aus 90,060 Quadratmeilen. David Cameron hat mit Nägeln und Krallen für eine davon gekämpft.“

David Cameron

BBC

Inwieweit das Wohlergehen jener Blase des Wohlstands im Londoner Bankenzentrum, deren Bestverdiener sich – wie neulich hier angemerkt - heuer eine durchschnittliche Gehaltserhöhung von 49% gegönnt haben, tatsächlich dem Rest der Bevölkerung zugute kommt, ist eine heiß umstritten Frage. Fest steht, dass die Institutionen der City in der Steuervermeidung genauso firm sind wie im Spekulieren mit anderer Leute Lebensgrundlage und im Übrigen auch gern einmal mit Freunden aus dem Finanzamt Essen gehen.

Will dann einer Manderl machen und wird rabiat, hat er gleich ein Disziplinarverfahren auf dem Hals, wie neulich der aufmüpfige Beamte Osita Mba.

David Cameron

BBC

Tatsächlich hat die britische Politik sich nicht erst seit Cameron, sondern seit dem sogenannten Big Bang der von Margaret Thatcher in den Achtziger Jahren betriebenen Deregulierung des Bankengeschäfts von der City vor sich herschieben lassen, egal ob Tory oder New Labour. Je mehr die herstellende Industrie in den letzten 40 Jahren an Gewicht verlor, desto größer die Abhängigkeit von der dementsprechend verhätschelten Finanzwirtschaft.

Aber Camerons Angst vor der Reaktion der City auf eine Finanztransaktionssteuer ist noch lange kein verständlicher Grund für sein gestriges voreiliges Veto, mit dem er sich diesbezüglich in die dümmste aller Verhandlungspositionen, nämlich die vor der verschlossenen Tür begeben hat.

David Cameron

BBC

Patrizier und Parvenüs - Die zwei Seelen der Tory Party

Um diese hirnrissige Strategie zu verstehen, muss man sich ein wenig mit Camerons Partei befassen, die im Groben und Ganzen aus zwei grundverschiedenen Interessensgruppen besteht, nennen wir sie den alten Adel und die Parvenüs.

Letztere streben so zu leben wie erstere seit Generationen, repräsentieren insofern einen großen Teil der britischen Mittelklasse und sind daher dringend notwendig, um Wahlen zu gewinnen. Diese kleinbürgerliche Klientel – man nennt sie auch die „Little Englanders“ - sind emotional höchst empfänglich für plumpen Nationalismus, auf dessen Gefühlsorgel die Tories virtuos zu klimpern verstehen.

David Cameron

BBC

Zum Beispiel, wenn es gilt, Europa die Schuld an der Stagnation der britischen Wirtschaft zuzuschieben, um vom Desaster des eigenen Sparprogramms abzulenken, das Schatzkanzler Osborne dank der steigenden Arbeitslosigkeit und (mit der rapide gesunkenen Kaufkraft der Bevölkerung) verringerter Steuereinnahmen bloß noch eine höhere Verschuldung eingebracht hat.

Oder wenn man stolz vom Ziel einer „repatriation of powers from Europe“, einer Wiedereinbürgerung von EU-Rechten zur Wiedererlangung britischer Souveränität spricht, ohne seiner patriotischen Klientel gegenüber zu erwähnen, dass damit nicht zuletzt das Recht zur Umgehung von EU-Arbeitsrechten (z.B. der Höchstarbeitszeitsregelung) gemeint ist.

Der gefährliche Übermut des Little England

Camerons Problem ist nun, dass die Eurokrise die Little Englanders in seiner Fraktion übermütig gemacht hat. Ein beträchtlicher Teil seiner Parlamentsfraktion will einen Schritt weiter gehen und mit einer Volksabstimmung einen Ausstieg aus der EU betreiben (selbst wenn sie dabei die Freihandelszone bewahren wollen).

Erst Ende Oktober benötigte Cameron im Unterhaus die Unterstützung der Europa-freundlicheren Labour- und LibDem-Fraktionen, um so ein Plebiszit abzuwenden (siehe dazu die Tory-interne Sicht des Daily Telegraph).

Aufallend ruhig verhielt sich dabei jenes Fünftel konservativer Abgeordneter aus dem Patrizierstand der „landed gentry“ (Großgrundbesetzer), die selbst EU-Agrarsubventionen beziehen.

George Monbiot hat neulich eine interessante Geschichte über dieses System der Umverteilung nach oben geschrieben, wie aus seinem „Update“ am Ende der Seite hervorgeht, kommen in seiner Liste aber nur „juristische Personen“ vor.

Zu weiteren Nutznießern gehört unter anderem der Windsor Estate der Königin, die umgerechnet zwischen 300,000 und 500,000 Euro Agrarsubventionen von den verhassten Eurokraten in Brüssel bezieht. Oder etwa David Camerons eigener Schwiegervater Sir Reginald Sheffield.
Diese Leute hängen verständlicherweise sehr an der EU, auch wenn sie's nicht gern an die große Glocke hängen.

Camerons patriotisch stupide Haltung am Donnerstag beim EU-Gipfel hat ihn zwar jeglichen Einfluss in Europa gekostet, aber einen schwelenden parteiinternen Konflikt beruhigt, der ihn einiges an national emotionalisierten Kleinbürgerstimmen, den Fortbestand seiner Koalition und damit seinen Job hätte kosten können.

Er wählte die letzte Zuflucht des Schufts.