Erstellt am: 9. 12. 2011 - 16:41 Uhr
Wikipedia und die dunklen Künste
"You know, the problem is, a lobbyist is a lobbyist, yes? And a lobbyist has some special smell."
Ernst Strasser wusste schon, warum ein Abgeordneter des Europäischen Parlaments in der Öffentlichkeit einen besseren Ruf genießt, als ein Lobbyist. Bis sein Doppelleben im März dieses Jahres von der britischen "Sunday Times" aufgedeckt wurde, wickelte er seine zwielichtigen Geschäfte offiziell immer in seiner Funktion als Abgeordneter ab. PR-Agenturen haben es da einfacher: Deren werberische bis lobbyistische Aufgaben und Ziele sind klar definiert und stark im Gesellschafts- und Berufsleben verankert. Verschleierungstaktiken unnötig.
Doch gibt es Steigerungsstufen, die dann nicht mehr als Selbstverständlichkeit durchgehen. Sehr ähnlich wie im Fall Strasser im vergangenen Frühjahr hat nun der ebenfalls britische "Independent" eine brisante Recherche des Bureau of Investigative Journalism publiziert. Dabei wurden Vertreter der englischen PR-Firma Bell Pottinger heimlich gefilmt, wie sie mit ihren "dunklen Künsten" prahlten. Gemeint ist damit der Einfluss auf hochrangige Politiker und das Wissen darüber, wie man Wikipedia-Artikel und Google-Ergebnislisten so manipuliert, dass sich die Kunden freuen und die Öffentlichkeit möglichst wenig davon mitbekommt. Besonders perfide ist der Fall deshalb, da es sich um Einträge von Mitgliedern des diktatorischen Regimes von Usbekistan handelt, das Menschenrechtsverletzungen begeht.
Bureau of Investigative Journalism / The Independent
So unverfroren das Bell-Pottinger-Aufdeckervideo auch ist, so üblich und alltäglich sind die hier besprochenen Methoden grundsätzlich. Zweifellos ist die hier gezeigte Absenz jeglicher ethischer Bedenken ein Ausnahmefall. Doch das gezielte Manipulieren von kommunikativen Dynamiken im Web seitens PR-Firmen ist immer öfter ein Teil der angebotenen Services. Vielleicht spricht man da nicht sofort mit jedem drüber. Aber Meinungsmache von Agenturen in Webforen und die auch bei Bell Pottinger angesprochene Suchmaschinenoptimierung wird heute in vielen Fällen als gar nicht mehr so dunkle Kunst angesehen. Pragmatismus ist angesagt, und schließlich wollen die Kunden für ihr Geld ja auch etwas bekommen.
Die gezielte Manipulation von Wikipedia-Einträgen ist ein Problem, dem sich die Wikimedia-Foundation, quasi die Organisations- und Presseabteilung der Wikipedia, intensiver stellen sollte. Zum aktuell vorliegenden Fall heißt es, dass man solche Vorkommnisse nicht komplett verhindern könne. Die Wikimedia hält weiter am offenen System der Wikipedia fest. In einer Reaktion heißt es: "Wir wollen durch Autorengewinnung und mehr Diversität in der Community die Wikipedia-Autorengemeinschaft stärken. Denn je mehr Menschen mitmachen, desto besser können Manipulationsversuche erkannt und verhindert werden." (Quelle: golem.de)
Die Bell-Pottinger-Aufdeckerserie geht weiter. Das Bureau of Investigative Journalism hat zwei Tage nach dem "Independent"-Artikel einen weiteren Bericht über die manipulativen Wikipedia-Editierungen veröffentlicht.
Dass die offene Struktur von Wikipedia ein Grundpfeiler ihres Erfolges und ihrer freien Identität ist, ist unbestritten. Doch es fehlt an konkreten Maßnahmen, wie man manipulative Autor/innen überführt und gleichzeitig ein transparentes System schafft, bei dem Firmen, Vereine und Personen mithelfen können, Fakten über sich selbst zu verbessern und zu korrigieren. Derzeit gibt es nur allgemeine - wenn auch stellenweise sehr präzise formulierte - Richtlinien zur Erstellung und Editieren von Einträgen. Interessenskonflikte werden dort streng gehandhabt, von "eigenen" Einträgen wird gänzlich abgeraten. Diese Politik ist einerseits verständlich, führt aber leider auch dazu, dass manipulative Strategien aus dem Untergrund beflügelt werden. Verbotene Dinge sind bekanntermaßen immer besonders interessant.