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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

8. 12. 2011 - 20:35

Journal 2011. Eintrag 222.

Hoffnungslos im Hoffnungslauf. Die Auslagerung von Wissen zieht die Amputation von Fähigkeiten nach sich. Oder: Die Qualität des Ausbruchs aus der unmittelbaren Befasstheit.

2011 ist Journal-Jahr - wie schon 2003, 2005, 2007 und 2009. Das heißt: Ein täglicher Eintrag, der als Anregungs- und Denkfutter dienen soll, Fußball-Journal '11 inklusive.

Hier finden sich täglich Geschichten und/oder Analysen, die ich als passionierter Medien-Konsument selber gern gelesen/-sehen/-hört hätte, aber nirgendwo (oder nur unzureichend) finden konnte; und deshalb selber ausforschen und durchdenken muss.

Heute mit einem Detail aus der gestrige Bonustrack-Sendung und ein paar Folgerungen.

Zufälligerweise sprechen ein paar Minuten nach Fertigstellung dieser Geschichte bei Scobel auf 3sat vier kluge Menschen über McLuhans Thesen und befassen sich dabei auch mit der hier angesprochenen Amputation von Fähigkeiten.

Der junge Mann, der gestern nach Mitternacht aus seinem Trainingslager in Ramsau in der Radio-Mitternachtssendung anrief, war arm dran; befand er. Mit seinen jungen, vor Energie berstenden Kollegen war er in einer Unterkunft abseits des Trubels quasi eingeschlossen; und das in einer Party-Nacht wie der gestrigen (weil heute ja der berühmte Advent-Einkaufs-Feiertag ist, den es weltweit nur in Österreich gibt).

Was ihn und die Seinen davon abhielt es wahren Sportgrößen nachzumachen, aus dem Trainingslager auszubüchsen und Abenteuer zu erleben waren folgende Faktoren: man befand sich im 4. Stock; und die nächste Disco/Bar/Schänke/Tränke wäre 30 Minuten entfernt gewesen.

Die jungen Herren sind Ruderer.
Und ich verstehe, warum Österreich im Rudersport seit Jonke/Zerbst nicht mehr auf die internationale Landkarte kommt: wer sich im Verfolgen seiner persönlichen Interessen derart lahmarschig anstellt, wird sich auch sportlich nicht durchsetzen können.

Lahmärsche begreifen schnelle Reaktion gar nicht mehr

Das Interessante kam aber gegen Schluss unseres Telefonats. Als ich versucht hatte den Ruderern mit einem Ruder-Ausdruck die Misslichkeit ihrer Risikolosigkeit zu verdeutlichen und sie als zu hoffnungslos selbst für den Hoffnungslauf benannte, fragte der Anrufer wie wir bei FM4 denn das machen würden, mit dieser schnellen Recherche und dem Quasi-Live-Gag-Schreiben.

Ich hab' zuerst nicht so recht verstanden was er meinte, und bin dann (auch weil das Telefonat schon klar zu Ende war) nicht mehr drauf eingegangen. Die Aussage hat mir aber dann doch ein wenig die Augen geöffnet.

Unser Ruderfreund, dem vier Stockwerke zu steigen zu mühsam ist, dachte im Ernst, ich hätte einen Redakteur, der parallel zu den Telefonaten stichwortartig das Netz durchsucht und dann (z.B. eben beim Thema Rudern) den Spezial-Begriff des Hoffnungslaufs findet, schnell einen Scherz damit macht und mir das dann über Ohrwaschelfunk einsagt. Oder er dachte, dass ich das selber, ganz nebenbei mache.

Das dachte er deshalb, weil er sich nicht vorstellen konnte, dass jemand außerhalb seiner Szene diesen Begriff gemerkt oder verinnerlicht haben könnte. Und bevor hier Gelächter einsetzt: Das alles dachte er, aus seiner Sicht, durchaus zurecht.

Emotionale Bookmarks in der Wissenslandschaft

Nun, ich verfolge die Sport-Ruderei tatsächlich nur am Rande, alle vier Jahre bei Olympia, dazwischen hin und wieder bei anderen zufällig erhaschten Großereignissen. Da konnte auch die Hobby-Ruderleidenschaft meines Vaters nicht mehr draus machen.

Wenn man da halbwegs konzentriert zuschaut, dann ist gerade der Hoffnungslauf eine sehr interessante Sache. Anders als in anderen Sportarten gibt es im Rudern für Versager nämlich eine zweite Chance. Das heißt, wenn ein Favorit in einem Rennen einen Ast hatte und abgestunken ist, dann gab es immer noch die Chance über den Hoffnungslauf weiterzukommen. Das ist eine feine Geste, die auch noch einen schönen Namen hat - Keep Hope Alive!

Das bedeutet auch, ganz automatisch, dass über die Hoffnungsläufe dramatische Geschichten passieren, Abstürze, Comebacks etc. Und so etwas wie emotionale Bookmarks in die durchaus kontemplative Betrachtung einer ruhig fließenden Sportart bringt.

Mir bedeutet dieser Begriff also etwas. Und das schwingt mit, wenn ich ihn für ein Bild verwende; weshalb der junge Herr Ruderer auch darauf ansprang.

Die Qualität des Ausbruchs aus der unmittelbaren Befasstheit

Für ihn und einen guten Teil seiner Generation ist dieses Sammeln von Wissen in Verknüpfung mit emotionalen Erinnerungen nicht mehr Usus. Sie sehen keine Notwendigkeit dafür aktuell nutzloses Wissen (also: alles, außer dem womit man unmittelbar befasst ist) zu sammeln. Sie wissen: das kann ich alles sofort im Netz oder am Handy finden. Sie sehen deshalb auch keine Notwendigkeit mehr Information mit Emotion zu verknüpfen um sich so die Dinge nicht nur zu merken, sondern sie auch mit einer Kraft aufzuladen, die sie in ein Narrativ überführt - in eine Erzählung.

Ich muss nicht extra erwähnen, dass der junge Ruderer nichts zu erzählen wusste; weil er das einfach nicht kann; nie gelernt hatte.

Das passiert nämlich, wenn man seine Konzentrations-Spanne verflachen und seine Assoziationsfähigkeit verkümmern lässt. Und das passiert, weil man seine Neugier nicht mehr schärfen muss - weil das Sicherheitsnetz des kollektiv gesammelten Wissens ohnehin alle auffängt.

Wenn man so funktioniert, muss man natürlich davon ausgehen, dass auch alle anderen so funktionieren. Deshalb auch die Frage wie denn das mit der Einflüsterei des Hoffnungslaufs so schnell gehen konnte.

Lahme Dödel und entwickelte Neugierdsnasen

Einschub: um hier nicht missverstanden zu werden - das ist kein pauschales Generations-Bashing. Dieselben technologischen Fortschritte haben eine andere Gruppe derselben Generation dazu befähigt ihr Können in weitaus stärkerem Maß zu fokussieren. Es ist nämlich selbstverständlich auch möglich sich mittels des exponentiellen Sammelns von Wissen auf der Basis von Neugier und emotionalem Zugang in eine Vorreiter-Rolle zu begeben.
Um die brauch ich mir (zumindest diesbezüglich) keine Sorgen zu machen - die quälen andere, formale, hier im Journal schon öfter besprochene Probleme.

Letztlich hat sich da aber nichts geändert: die lahmen Dödel, die nicht viel interessiert hat, sind doof geblieben; die Neugierdsnasen haben sich entwickelt.
Der zentrale Unterschied in der digitalen Gesellschaft: die lahmen Dödel wissen nicht mehr, dass sie lahme Dödel sind - sie gehen davon aus, dass ihnen das Nachschlag-Ding aus allem raushilft.

Im Normalfall klappt das auch: noch jede bewusst durch neue Techniken gesetzte Amputation von Fähigkeiten wurde aufgefangen.

Trotzdem ist das starre Sich-Verlassen auf das Auffangnetz ein katastrophaler Irrtum.

Wissens-Verfügbarkeit bedingt mehr erzählerische Qualität

Soll heißen: wenn ich im Erzähl-Metier tätig sein will (etwa als Journalist) reicht die wikimäßige Auslagerung von emotionalem Wissen nicht aus.
Was nicht heißen soll, dass der analoge Journalismus ohne lahme Dödel ausgekommen ist. Die sind und waren da immer dabei, oft auch federführend.
Nur: Damals sind Fehler nicht so aufgefallen. Heute sind die Ansprüche höher; auch weil wir ja alles über die Verfügbarkeit von Wissen Bescheid wissen.

Und genau deshalb ist reine Wissensweitergabe öd.
Die Menschen wollen mehr, nämlich Geschichten, Narrative. Was das voraussetzt: siehe oben.

Und da spreche ich jetzt nicht nur von Journalismus. Wenn ich an die jungen Ruderer denke und mir vorstelle, wie sie in der Bar irgendwo in der Ramsau versuchen Mädchen zu beeindrucken, dann tun sie mir verdammt leid. Denn auch das geht nicht mit dem Verweis, dass man eh alles nachschauen kann, auch das geht nur mit Geschichten. Je emotionaler und echter, desto besser.