Erstellt am: 6. 12. 2011 - 15:13 Uhr
Weihnachten für Musiknerds
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Wie sich doch die Prioritäten verschieben können: Obwohl wir immer und überall soviel flüchtige Informationen und Nicht-Informationen aufnehmen wie nie zuvor, fühlt sich die altmodisch geballte Ladung Lesestoff heute fast schon wie Urlaub an. Bücher, die Sprudelbecken im Kopf?
Die Rede ist hier aber mitnichten von Schönwetterliteratur, bei der die Strandsandkörner zwischen den Seiten schon mitgeliefert werden. Nein, es geht eigentlich um Fakten, Fakten, Fakten! Sachbücher zu vordergründig mitteltrockenen Themen, die aber so spannend und unterhaltsam geschrieben sind, dass man sie nicht mehr aus der Hand legen will und insgeheim die Station, an der man aussteigen - also zuklappen - muss, verflucht.
Drei Bücher, die auf sehr verschiedene Weise musikhistorische Geschichten erzählen und mir so die letzten Monate versüßt haben bzw. es noch immer tun. Wenn Sie also mit dem Retro schon durch sind, und/oder eine Unverträglichkeit gegen Glatzen-Biographien haben, lesen sie hier weiter:
dan charnas
Dan Charnas - The Big Payback
Der Wirtschaftsteil war in der Zeitung früher der, den ich meist schnell überblättert habe oder überhaupt ungeschaut weggelegt habe. Irgendwie hat dieser Teil aber in der Zwischenzeit den Rest der Zeitung aufgefressen - for better or for worse!
Dass ich mich irgendwann für einen Wälzer über Wirtschaftsgeschichte begeistern würde, hätte ich als Teenager wohl nicht geglaubt. Aber zumindest ist das Business, um das es bei Dan Charnas geht, noch das der Show. Und in dieser Industrie, der ja bekanntlich keine andere gleicht, hat auch Charnas seine Sporen verdient: Anfangs bei Profile Records, später als Leiter der Rap-Abteilung von Rick Rubins American Records.
Aus seiner Zeit im Zentrum der aufstrebenden HipHop-Industrie hat der spätere Journalist und Autor viele Kontakte, Erzählungen aber auch selbst erlebte Anekdoten mitgenommen, die er über die letzten Jahre mit peniblem Factchecking und hunderten Stunden an Interviews zu einem wahren Wälzer verarbeitet. "The Big Payback" erzählt, wie der Untertitel schon sagt, die Geschichte des HipHop-Business - eine Geschichte voller atemberaubender Aufstiege und epischer Abstürze, von Verrat und von Menschen, die trotz heftigem Gegenwind an ihr Ding glaubten und es letztlich innerhalb von zwei Jahrzehnten zur dominanten Ästhetik in der westlichen Pop-Welt machten.
Weil sich das (leider schon lange nicht mehr upgedatete) Standardwerk "Rap Attack" von David Toop eher auf die Musikerseite konzentriert und Jeff Changs ebenso empfehlenswertes "Can't Stop Won't Stop" die soziologischen Gegebenheiten rund um die HipHop-Evolution beleuchtet, ist dieses Buch eine exzellente Ergänzung, um sich ein möglichst vollständiges Bild zu machen. Weil die Geschichte natürlich nie zu Ende erzählt sein wird, gibt es übrigens via Blog und Twitter häufige Updates zum Thema!
dave tompkins
Dave Thompkins - How To Wreck A Nice Beach
Geht es bei Dan Charnas noch um eine (zumindest von einigen wenigen) gewollte und forcierte Entwicklung, so ist die Geschichte, die Dave Thompkins in seinem großartigen Buch erzählt, wesentlich verwinkelter. Schon die Ausgangslage bietet sich dafür an: Eine Technologie, die ursprünglich für die Verschlüsselung von strategischen Telefonaten zwischen Churchill und Roosevelt während des zweiten Weltkriegs entwickelt worden war, lässt später die Maschinen singen und wird zu einem essenziellen Tool innovativer Musiker zwischen Düsseldorf und Detroit. Tompkins' unglaublich pointierter Schreibstil packt in das ohnehin faszinierende Narrativ noch drei Querverweise pro Satz und baut so scheinbar beiläufig auch Charaktere wie den Science Fiction Autor Ray Bradbury in das Buch ein. Die einzige minimale Schwachstelle von "How To Wreck A Nice Beach" (der Titel stammt übrigens vom missverstandenen Vocoder-Testsatz "How to recognize speech") ist sein Medium. Denn eigentlich möchte man all die angesprochenen Songs und Soundclips auch sofort hören, hier wäre wohl eine interaktive Hypertext-E-Book-Variante optimal.
Andererseits ist das schon gut so, denn jetzt habe ich nicht nur das Buch, sondern auch einen Haufen exzentrischer Vocoder-Musik angesammelt und damit mein Leben nachhaltig bereichert. Großer Dank gebührt daher Dave Tompkins, der übrigens auch immer wieder kleine Anekdoten zum Thema online nachträgt und außerdem nächste Woche in Maastricht, Hamburg und Düsseldorf lesen und sprechen wird. Geht man von seinem Buch aus, muss das eigentlich extrem unterhaltsam und lehrreich werden!
J-Zone - Root For The Villain
J-Zone
Unterhaltsam und lehrreich sind auch zwei gute Stichworte für J-Zone. Um die Jahrtausendwende begeisterte uns der MC und Produzent aus Cambria Heights, Queens mit zu funky Beats zusammengebastelten Easy Listening Platten, lustig-schlüpfrigen Texten und Albentiteln wie "Pimps Don't Pay Taxes", "Sick Of Being Rich" oder "A Job Ain't Nothing But Work". Ein New Yorker Underground Rapper, der großteils ironisch kalifornischen Pimp-Figuren wie Suga Free nacheiferte, das hatte die Rap-Welt noch nicht gesehen. Ich kann mich noch sehr genau an den Moment erinnern, als ich den Mann im Backstageraum des Wiener WUK traf und ob seines Outfits verwundert war: J-Zone trug Pelz.
J-Zone
Diese Europa-Tour, die indirekt auch mein Leben verändern sollte, bekommt in "Root For The Villain" ein eigenes Kapitel. Mit viel Selbstironie und guter Beobachtungsgabe lässt J-Zone da Episoden aus seinem Leben und seiner Karriere Revue passieren. Autobiographie ist das keine, eher eine Sammlung von kurzen, meist lustigen Geschichten, Kämpfen gegen digitale Windmühlen und Rap-Nerderei.
Zwischendurch wird es aber auch kurz ernst, als es um den Moment geht, als der New Yorker beschließt, seine Rap-Karriere an den Nagel zu hängen und sich einen echten Job zu suchen. Wenn er kurz darauf im neuen Beruf als Basketball-Reporter von Nachwuchsspielern auf seine nicht ganz jugendfreien Videos angesprochen wird, läuft der talentierte Comedian in J-Zone aber wieder zu Höchstform auf.
Die ehrliche Auseinandersetzung mit den Zweifeln und dem letztlichen Aufgeben des Musiker-Lebensstils ist höchst lesenswert - egal, ob man diese Gefühle aus eigener Erfahrung nachvollziehen kann oder so einen Einblick hinter die scheinbar glamuröse Oberfläche bekommt.
Ein großes Buch, das J-Zone übrigens, wie auch alle seine Platten, komplett selbst veröffentlicht hat.