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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

4. 12. 2011 - 23:39

Journal 2011. Eintrag 218.

Europäische Betulichkeit.

2011 ist Journal-Jahr - wie schon 2003, 2005, 2007 und 2009. Das heißt: Ein täglicher Eintrag, der als Anregungs- und Denkfutter dienen soll, Fußball-Journal '11 inklusive.

Hier finden sich täglich Geschichten und/oder Analysen, die ich als passionierter Medien-Konsument selber gern gelesen/-sehen/-hört hätte, aber nirgendwo (oder nur unzureichend) finden konnte; und deshalb selber ausforschen und durchdenken muss.

Heute mit einer kleinen Auffälligkeit beim 24. Europäischen Filmpreis, die deutlich mehr als nur etwas übers Kino aussagt.

Okay, als Anke Engelke in einer der Melancholia-Zeitlupen-Posen von Kirsten Dunst auf die Bühne kommt und folgerichtig von Shantel, die an diesem Abend die Begleitband geben werden, überholt wird, bin ich guter Hoffnung. Dass der Europäische Filmpreis, wenn er schon nicht die geballte Marketingmacht Hollywoods hinter sich hat, zumindest die originelleren Geschichten, Side Stories, Narrative auf die Bühne stellen kann.

Das passiert in der Folge dann auch heuer, im Berliner Tempodrom, wieder nicht.
Die Veranstaltung hat weder die slicke Raffinesse des Oscars noch die lässige Beiläufigkeit der Golden Globes. Das kann nur bedingt mit dem Talent und dem Können zu tun haben.

Es liegt vor allem an der Betulichkeit.

Nicht so sehr an der der Film-Branche, die einem bei jeder Party das Gefühl gibt, dass sie zuvorderst immer pauschal um Nachsicht bittet, zum einen für den immer zu hohen kommerziellen Aspekt dessen, was ihr Ideal der Filmkunst ihnen eigentlich erlaubt, zum anderen für die Tatsache, dass ihre Kunstgattung ganz unglaublich viel öffentliches Geld in etwas doch verdammt Flüchtiges steckt. Deshalb sagen die Kinomenschen bei ihren Festen immer lieber erst Entschuldigung. Was sie betulich macht.

Es liegt nicht am europäischen Filmpreis und der Branche ...

Hier war aber eine größere Betulichkeit auffällig, eine, die weit über ein Genre oder eine Branche hinausgeht. Es ist eine Betulichkeit, die direktes Zupacken, schmerzhafte Analyse und bösartige Frechheit, aber auch Improvisation, Laissez-Faire und langmütige Nonverbalität verhindert. Weshalb keine gute Party entstehen kann, keine aussagekräftige Veranstaltung, ja eigentlich gar keine gemeinsame Zusammenkunft von Kraft und Bedeutung.

Die Betulichkeit die ich meine, entsteht aus der Inexistenz einer gemeinsamen Sprache. Das wird immer bei europäischen Versammlungen deutlich, überdeutlich.

Wenn die ersten Deutschen, Spanier oder Franzosen sich in einem vorher als Gemeinsamkeit festgelegten Englisch geäußert haben, dann besteht nur über eines Klarheit: sie haben durch einen Filter gesprochen, der sie ihrer Individualität beraubt. Nicht nur den Öttingern oder Strassers geht es so, auch der Film-Jetset radebricht seine Lingua Franca doch recht elend.

Der Verlust der Orgininärsprache geht einher mit einer weiteren Selbst-Beschneidung: im Bewusstsein, dass alle anderen Beteiligten auch keine Native Speakers sind und womöglich auch so wenig gut wie man selbst, nivelliert sich der Inhalt dessen, was man zu sagen gewillt ist, auch gleich mit in Richtung runter.

Das Radebrechen in der Lingua Franca schafft Unsicherheit

Und aus dieser somit verdoppelten Unsicherheit wird die Rücksichtnahme gleich auch noch auf Untertöne, Gesten und Mimik ausgeweitet. Was den Betulichkeits-Mix komplett macht.

In diesem Geist der europäischen Betulichkeit spielt sich nun das Meiste an intereuropäischer Kommunikation ab. Alles, was sich nicht auf dem selbstbewusst-machtpolitischen Level der EU-Spitzen (die sich der Penibilität ihrer Übersetzer gewiss sein können) oder vergleichbarer Konzerne bewegt, bekommt was davon ab.

In der englischsprachigen Welt gibt es einen ganzen Haufen sprachliche und kulturelle Differenzen: Praktisch jede Nationalität, meist auch jede regionale Community sieht sich allen anderen im Commonwealth dieser Sprache gleichgestellt oder gar überlegen und spöttelt sie massiv an.
Aus dieser Reibung entsteht das Gegenteil von Betulichkeit, nämlich Verve und Kraft. Wenn einander (nur als Beispiel) Aussies, Südstaatler, Schotten, Inder oder Westinder behaken, dann werden sie es ohne sprachliche oder inhaltliche Rücksichtnahme tun. Ohne die Betulichkeit der Europäer, die die Tatsache, dass sie sich in so viele Sprachen aufteilen zum Anlass nehmen, gleich nicht wirklich miteinander reden zu müssen.

Die Betulichkeit baut niedergerissene Mauern wieder auf

Man baut durch den vorgegeben Sprachfilter auch gleich wieder die nationalen Grenzen auf, die die Europäische Union in den letzten Jahren in mühseliger Arbeit weggeräumt hatte.
Überall; auch beim europäischen Filmpreis.
Ganz unabsichtlich. Der ist in seiner Inszenierung eh schon ein wenig zu artifiziell, und wird durch die betulich eingesetzten Sprachebenen dann noch künstlicher.

Was in diesem Zusammenhang aber mehr als tröstlich ist: für die jüngere Generation, die zunehmend besser imstande sein wird, sich in der Weltsprache auch umfassend auszudrücken, ist all dies ziemlich wenig nachvollziehbar. Denn selbstverständlich sorgt etwa die allgemeine Netzsprache, ebenso wie die reisetechnisch unbeeinspruchte Verständigungs-Sprache dafür, dass sich das Niveau massiv erhöhen wird.

Das bedeutet, dass - aller antieuropäischer Propaganda zum Trotz - ein zentraler Grund für die Betulichkeit, die innerhalb Europas dem europäischen Gedanken gegenüber herrscht, in der nächsten Zeit sukzessive wegfallen wird. Also: eh nur noch ein paar Jahre damit herumg'fretten.