Erstellt am: 7. 12. 2011 - 12:21 Uhr
Tagebuch zum Jahr des Verzichts (36)
marc carnal
2011 wird Tagebuch geführt und verzichtet: Monatlich auf ein bestimmtes Sucht- und Genussmittel, auf Medien oder alltägliche Bequemlichkeiten. Jeder Verzicht ist klar eingegrenzt. Es gelten freiwillige Selbstkontrolle und dezenter Gruppendruck unter den Mitstreitern.
Sonntag, 27 November
■ Manchmal kommt es auch wirklich nur auf die großen Dinge im Leben an.
■ Womit die Welt zwar etwas weniger reich, aber auch nicht wesentlich ärmer wäre:
A-capella-Gruppen.
Das ist freilich nur ein Punkt in der üppigen Liste namens „Womit die Welt zwar etwas weniger reich, aber auch nicht wesentlich ärmer wäre“, die restlichen werden in den nächsten Wochen bei Bedarf nachgereicht.
Montag, 28. November
■ Peter Rapp ist gerade am besten Weg, der William Shatner Österreichs zu werden: Alter Sack, der für Geld alles tut und sich in jedem denkbaren Metier erprobt, seine Sache aber nicht immer schlecht macht und dabei halbwegs sympathisch bleibt.
■ Das Landia in der Ahornergasse: Gut versteckt, leicht amerikanisches Ambiente, sehr gute vegetarische Küche.
Ein bleibender Effekt des Novembers sind auf jeden Fall einige hervorragende vegetarische Lokale, die ich lieb gewonnen habe.
Dienstag, 29. November
■ Eine prächtige Schlagzeile in den Salzburger Nachrichten
SN
■ Infinite Jest von David Foster Wallace begonnen. Beeindruckt vor Lektüre der ersten Zeile freilich durch den schieren Umfang von über 1500 Seiten. Nach den ersten hundert ist klar: ein größenwahnsinniger Irrsinn, der immenses Vergnügen bereitet. Zuvor gelesene Vergleiche mit Ulysses und Clockwork Orange sofort nachvollziehbar.
Mittwoch, 30. November
■ Wahrlich tabuisiert ist die Frage, wo man sich eigentlich die Nägel schneiden soll. Schließlich findet ein Großteil der Gesamtbevölkerung abgeschnittene Nägel widerlich. Gegen jede Location finden Nagel-Skeptiker etwas einzuwenden. Irgendwo muss ich „es“ doch tun! Maniküre ist im Budget nicht vorgesehen. Badewanne? Bonus-Abfluss-Verstopf-Faktor! Fenster? Passanten! Nächtens im Hinterhof? Ruf der Verschrobenheit in der Nachbarschaft!
Deshalb, Geschäftsidee Nr. 3214, die nie umgesetzt wird: Nagel-Schneid-Boxen aus Glas mit zwei Öffnungen für die schneidende bzw. die bearbeitete Hand, die hernach geleert werden können.
■ Parallellektüre zu Wallace: Wieder einmal Thomas Hettche. Vierter Versuch. Wird wieder scheitern. Es gibt Autoren, deren Qualität man schnell erkennt, sie aber erst lesen kann, wenn sich aktuelles Befinden, Konzentration und Motivation ideal ergänzen. Geht mir ähnlich mit Celine.
Aber: ein schönes Gefühl, noch so viel wunderbare Literatur vor sich zu haben.
Donnerstag, 1. Dezember
marc carnal
■ Ricardo Moniz reiht wahllos Redewendungen und sprachliche Versatzstücke aneinander. Klingt stellenweise interessant, ist aber zumeist unverständlich. Fügt sich nach Trapattoni, Matthäus und Stevens aber bei Red Bull in eine prominente Reihe von Herren ein, die seltsames Deutsch sprechen.
■ Im letzten Verzichts-Monat ist Fast-Food verboten. Hierbei ist die Eingrenzung nicht ganz leicht. Freilich ist nicht jeder Imbiss verboten – Vielleicht wäre „Junk Food“ die bessere Bezeichnung für die aktuelle Entsagung.
Verboten sind natürlich klassische Stress-Nahrung wie Kebab, Burger oder Pizzaschnitten. Auch der Erwerb fertig belegter Brote oder Wurstsemmeln aus dem Supermarkt ist untersagt. Erlaubt ist es, begehrte Snacks selbst zuzubereiten – Der Erwerb eines hauseigenen Dönerspießes wäre also möglich. Auch der Gang ins Restaurant, um essen zu gehen, wird gebilligt. Selbst Tiefkühlwaren, die der Abrundung eines eigenhändig zubereiteten Gerichts dienen, dürfen verwendet werden.
Freitag, 2. Dezember
■ Vor drei Wochen den Internet-Anbieter gewechselt. „Der Techniker wird sich im Lauf der Woche bei Ihnen melden.“
Nach einer Woche Nachfrage, wann sich der feine Herr Techniker denn zu melden gedenkt. „Ihre Bestellung ist noch in Bearbeitung. Sie werden verstehen, dass gerade im Weihnachtsgeschäft bei uns sehr viel los ist.“
Natürlich verstehe ich das, akzeptiere es aber natürlich nicht als Begründung.
Zwei weitere Wochen später noch immer kein Anruf. Nächster Versuch meinerseits: „Ich brauche das Internet beruflich, bestimmt sind auch Sie ein Freund des stets unterhaltsamen Tagebuchs zum Jahr des Verzichts, in dem ich die begeisterte Leserschar mit verzückenden Bonmots fessle. Das, aber nicht nur das, kann ich ohne Verbindung zum segensreichen Weltennetz leider nur unter erschwerten Umständen bewerkstelligen, also bitte ich Sie noch ein letztes Mal höflich, diesem ominösen Techniker auszurichten, er möge mich zumindest einmal anrufen, um mir dann ohnehin höchstwahrscheinlich zu sagen, er könne mich erst im Februar besuchen.“ (leicht paraphrasiertes Gedankenprotokoll)
“Er wird sich spätestens morgen bei Ihnen melden.“
Morgen ist heute. Um neun Uhr vormittags läutet das Telefon genau zweimal. Ich rufe zurück. Das Band verlautet folgendes: „Danke für Ihren Rückruf. Wir haben Sie zu Servicezwecken angerufen. Leider sind gerade alle unsere Techniker beschäftigt. Wir erlauben uns, Sie bei Bedarf erneut zu kontaktieren.“
Bedeutet das, ich habe die Jahrhundertchance des drei Sekunden dauernden Anrufversuchs nicht wahrgenommen?
Ich bemühe erneut die Serviceline und starte überfallsartig mit einem dreiminütigen Redeschwall.
“Ich verstehe natürlich, dass Sie verärgert sind…“
“Ich bin sanftmütig, aber ich tue so, als wäre ich verärgert, denn mit Höflichkeit scheint man bei Ihnen nichts zu erreichen.“
“Der Techniker wird sich morgen wieder bei Ihnen melden und öfter als zweimal anklingeln, versprochen.“
Dies sei als Warnung verstanden, nicht immer den günstigsten Anbieter zu wählen. Namentlich werde ich ihn selbstverständlich nicht erwähnen.
Einige Hinweise seien mir aber erlaubt:
- Reinhard Fendrich könnte im Falle des Ablebens von Wolfgang Ambros aber theoretisch unter ebendiesem Namen auftreten.
- Man kennt den Anbieter auch unter einem Namen, der wie die Aufforderung an ein beliebtes Fernsehmagazin klingt, näherzutreten.
- Die umgangssprachlich gefärbte Hinweis, man würde „auch eines“ besitzen, lässt ebenfalls auf den vermaledeiten Anbieter schließen.
■ Gestern Faschiertes, heute Schnitzel, morgen Steak.
Es war nicht nur einfach, sondern auch wohltuend, einen Monat lang kein Fleisch zu essen. Vegetarier bleibe ich deshalb trotzdem nicht.
Nun könnte man sich natürlich fragen, ob denn überhaupt einer der bisherigen Verzichts-Monate eine nachhaltige Wirkung hatte.
Ja! Ich trinke weniger Alkohol und Kaffee. Und ich habe die Freude am Radfahren wieder entdeckt. Ansonsten: Willkommene Herausforderungen und Erfahrungen. Mehr war nie das Ziel.
Samstag, 3. Dezember
■ Zwei Stunden aktuelle Lyrik-Erscheinungen prüfend durchkämmt. Neunzig Prozent scheiße. Fünf Prozent handwerklich gutes Aufwärmen von Verjährtem. Fünf Prozent zumindest beim ersten Lesen interessant.
Traurig. Keine Sau liest Gedichte. Kein Wunder.
■ Der Freundeskreis ist geladen, um die letzte Folge von „Wetten, dass…“ mit Thomas Gottschalk gemeinsam anzusehen.
Wie gewohnt unglaublich langweilige Sendung mit katastrophalen Wetten (150 Outfits von Gottschalk auswendig lernen? Gebt mir zwei Wochen!)
Trotzdem das Ende einer Konstante: Wenn sich samstags partout keine Trinkmotivation einstellen will, bleibt immer noch, vor der Wahl des Wettkönigs mit den Splittern teurer Nuss-Spezialitäten im Maul einzudösen.