Erstellt am: 3. 12. 2011 - 14:14 Uhr
Die Rache an der Provinz
Andreas Altmann ist immer noch stinkwütend. Auch im Alter von 62 Jahren lodert in einem Mann, der viel erlebt und erreicht hat, der sich als Reiseschriftsteller etabliert hat, der Preise einheimst für seine Arbeit, der es sich leisten kann, in Paris zu wohnen, eine Wut auf das, was er schon im Titel seines autobiografischen Buches seine Scheißjugend nennt.
Wolfgang Schmidt
"Das Scheißleben meines Vaters, das Scheißleben meiner Mutter und meine eigene Scheißjugend" ist eine Abrechnung mit denen, die ihn in seiner Kindheit heute unvorstellbaren Qualen und Misshandlungen ausgesetzt haben: sein Vater, seine Lehrer und die Autoritäten im Marien-Wallfahrtsort Altötting in Oberbayern, nicht weit von der österreichischen Grenze.
Das Scheißleben ist aber kein Hass-Buch, wie es mancherorts bezeichnet wird. Wenn Andreas Altmann etwas hasst in diesem Buch, dann Altötting, den Wallfahrtsort, den provinziellen, bigotten Nachkriegsmief, der sich dort in seiner Jugend in ganz spezieller Weise breit gemacht hat. „Altötting ist keine Heimat für mich, Altötting ist eher ein Geburtsfehler, den man verheimlichen will”, sagt er in einem Interview. Altötting, der Ort an dem die Pilger auf Knien um die Gnadenkapelle rutschen, bevor ihnen Vater Altmann ein paar Exemplare aus seinem Sortiment von heiligem Krimskrams verhökert. Wo auch die Religionslehrer Kinder prügeln und manchmal auch missbrauchen, von den anderen Lehrern ganz zu schweigen.
Demütigung, Schläge, Geiz, Arbeit
Das Leben im Altmann-Haus ist gekennzeichnet von Demütigung, Schlägen, Geiz und Arbeit. Die Kinder bekommen, obwohl das Geschäft gut läuft, so wenig zu essen, dass sie Zeichen von Unterernährung zeigen. Spielen oder Müßiggang gibt es nicht, sie müssen nach den Hausaufgaben in der väterlichen Firma helfen und nach der Flucht der Mutter auch den Haushalt führen. Die Mutter wird vom Vater heruntergeputzt wo es nur geht, bis sie es schließlich nicht mehr aushält. Der Vater setzt den Krieg, den er bei der SS verbracht hat, zu Hause fort. Weil er nicht mehr anders kann?
„Man war ja früher gezwungen, sich zu verhalten.“ sagt der ebenfalls in Altötting aufgewachsene Gerhard Polt in einem Kabarettprogramm über seine Kindheit „Wegen den Bedingungen. Es hat ja ständig Bedingungen gegeben. Also wir waren ja von Bedingungen direkt umzingelt!“ Die Bedingungen waren im Nachkriegs-Altötting auch für Vater Franz Xaver Altmann keine einfachen: der ehemals charmante Lebemann übernimmt den väterlichen Devotionalienhandel und lässt die Wut auf sein eigenes, in der Kleinbürgerlichkeit gefangenes Leben, die Wut über seine Unfähigkeit, aus der Altöttinger Spießigkeit auszubrechen, an sich und seiner Familie aus.
Das Patriarchat als letzte Bastion des Faschismus
Piper Verlag
Andreas Altmann: Das Scheißleben meines Vaters, das Scheißleben meiner Mutter und meine eigene Scheißjugend
erschienen bei Piper
Obwohl er bei jeder Gelegenheit die Erbärmlichkeit ihres Verhaltens bloßlegt, verfährt Altmann mit seinen Eltern gnädig. In seine Abrechnung versucht er, jedes positive Detail ebenso einzurechnen wie jede Tracht Prügel, jede verbale Gewalt, jede Demütigung, die er einstecken musste.
Nicht blinder Hass auf Vater und Mutter treibt ihn, sondern Wut über ihre Unfähigkeit, mit den Bedingungen, mit ihrer eigenen Wut und Angst und mit den Zwängen der Provinz einigermaßen menschlich umzugehen. Er erhebt sich nicht über seine Eltern und hält seinen Bericht streng subjektiv. Diese Subjektivität ist es aber auch, die das Buch so brutal direkt wie beeindruckend macht.
Direktheit und Wortgewalt
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Mit seiner Direktheit und einer Wortgewalt, die an Oskar Maria Grafs Wir sind Gefangene erinnern, notiert Altmann die Brutalität, die Leere und den Zwang von Eltern und schulischen Autoritäten, und wie er es schafft, seine Kindheits- und Jugendträume unter diesen Bedingungen trotzdem zu bewahren – und seinen Widerstandsgeist nicht zu opfern, sich nicht brechen zu lassen. Er schildert das Aufwachsen in einem Nachkriegsdeutschland, in dem die Schatten der Vergangenheit noch allgegenwärtig sind, und in das die neue Zeit, die Popkultur, langsam Einzug hält.
Andreas Altmanns Roman ist ein beeindruckendes Werk über das erwachsen Werden in einer Umgebung, die von Arschlöchern beherrscht wird. Da Arschlöcher bekanntlich nie aussterben (und der Schaden, den sie anrichten, noch lange zu spüren ist) ist es leider nach wie vor ein sehr aktuelles Buch.