Erstellt am: 29. 11. 2011 - 10:26 Uhr
Ein Kreuz für das neue Ägypten
Es ist der 28. November. Ich gehe mit Mariam Mekiwi zu ihrer ersten demokratischen Wahl. Mariam ist 24 Jahre alt und lebt in Ägypterin. Sie ist Filmemacherin und ein durch und durch politischer Mensch. Sie ist in einem Land aufgewachsen, das seit 60 Jahren keine freien Wahlen mehr abgehalten hat. Sie kam zur Welt, als Mubarak bereits sechs Jahre Präsident war.
Sammy Khamis / Radio FM4
Mariam ist meine Cousine und eine gute Freundin. Sie wohnt zwei Gehminuten vom Tahrir Platz entfernt. Sie war immer dabei wenn es am Tahrir Demonstrationen gab, auch vor der Revolution im Januar. Die Kairoer Innenstadt ist ihr Wahlkreis.
300 Parteien und drei Stimmen
Mariam hat sich in den Wochen vor der Wahl informiert, wer kandidiert, wen sie wählen will. In den letzten zehn Monaten haben sich 300 Parteien für die Parlamentswahl registrieren lassen. Mariam hat drei Stimmen. Eine geht direkt an einen Abgeordneten, eine weitere an eine Parteiliste und mit der dritten Stimme wählt sie entweder einen Arbeiter oder einen Bauern ins Parlament.
Mariam wählt Gamila Ismail als Abgeordnete. Ismail ist Politikerin und Aktivistin. Mariam wählt sie nicht, weil sie ihr ähnlich ist: Intelligent, unverschleiert, selbstbewusst, sondern vor allem weil ansonsten nur Männer kandidieren und diese entweder mit Mubarak verbunden waren, oder zu den Moslembrüdern gehören.
Vorbei an ausgebrannten Autos, Stacheldraht und Militärposten zum Wahllokal
Wir treten vor Mariams Wohnung. Die Straßen sind noch nass vom Regen am Vortag. Unser Weg führt uns zum Bab el- Louq, dem alten Markt in der Innenstadt. Hier wurde letzte Woche erbittert gekämpft. Demonstranten lieferten sich über eine knappe Woche heftige Auseinandersetzungen mit der Polizei und dem Militär. Steine gegen Gummigeschoße, gegen Molotowcocktails und gegen scharfe Munition. Das Tränengas war in diesen Tagen überall, auch in Mariams Wohnung, die einige hundert Meter entfernt ist.
Sammy Khamis / Radio FM4
Die Straßen um den Markt sind noch verbarrikadiert. Stacheldraht und ausgebrannte Autos begleiten uns auf dem Weg zur Mohamed Mahmoud Straße, der Straße in der das Innenministerium liegt. Die ägyptische Bastille; hart umkämpft, aber noch nicht gestürmt.
Wo noch bis gestern jeder Durchgang verweigert wurde, gewähren die Sicherheitskräfte heute ohne Probleme Zutritt. Mariam schüttelt den Kopf: "Ich kann es nicht glauben. Letzte Woche haben sie uns noch erschossen, und heute sollen sie uns beim Wählen beschützen?!"
Wir gehen durch no mans land. Hinterlassenschaften zweier Frontlinien. Im Gehsteig fehlen zum Teil Pflastersteine, weil sie als Geschoße verwendet wurden, an den Hauswänden finden sich Einschusslöcher.
Eine Schule im Krisengebiet, Ort der ersten freien Wahl in Ägypten
Wir biegen ums Eck. Eine lange Reihe von Männern steht Schlange. In Reih und Glied warten sie darauf ihre Stimme abzugeben. Der Eingang der Schule, in der die Wahl stattfindet, liegt auf der anderen Seite des Gebäudes. Die Schlange reicht einmal um den ganzen Block. Von der anderen Seite stehen die Frauen an. Mariam stellt sich zu ihnen. Alle gehen an diesem Tag wählen. Jung, alt, verschleiert, koptisch, liberal oder muslimisch.
Natürlich gibt es kleine Reibereien. Manche drängeln, andere warten schon länger, die Schlange der Männer bewegt sich um ein vielfaches schneller als die der Frauen. Neue Wahlen, mögen sie auch noch so gut organisiert sein, werden nie komplett reibungslos ablaufen. Deshalb wird geschrien und gedrängelt, geschubst und geflucht. Alle wollen sie über das Parlament abstimmen, aus dem auch die verfassungsgebende Versammlung hervortritt.
Mariam wartet insgesamt 2 Stunden, um ihre Stimme abzugeben. Mit einem blaugefärbten kleinen Finger und etwas gestresst kommt sie nach wenigen Minuten aus dem Eingang der Schule. Auf ihren Lippen der Satz: "90% aller zurückgebliebenen Ägypter waren dort drinnen." Erleichterung? Freude? Nicht bei Mariam. Sie hatte schon im März gegen die Verfassungsänderung gestimmt. Eigentlich wäre sie für einen Boykott, der aber hätte besser organisiert werden müssen. Und früher.
Der Tahrir probt den Boykott
- So sollen Wahlen in Ägypten ablaufen: Quereinstieg: Wahlen in Ägypten
Wir steigen wieder über Stacheldraht. Diesmal um die gesperrten Straßen zu verlassen. Unser Weg nach Hause führt über den Tahrir. Er ist immer noch belagert von tausenden Menschen. Viele von ihnen gehen nicht wählen. Sie forderten letzte Woche den Rücktritt Tantawis und die Übergabe der Macht an eine Zivilregierung. Auf ihre Forderungen wurde nicht eingegangen. Deswegen werden sie auch nicht wählen gehen.
Mariams Stimme aber zählt und wird Niederschlag in der neuen Verfassung finden. Über diese wird am Ende der Übergangsperiode per Referendum abgestimmt. Wohl nicht vor 2013. Hoffentlich braucht sie sich dann nicht nochmal einen Boykott der Wahl zu wünschen.