Erstellt am: 28. 11. 2011 - 19:57 Uhr
Journal 2011. Eintrag 215.
2011 ist Journal-Jahr - wie schon 2003, 2005, 2007 und 2009. Das heißt: Ein täglicher Eintrag, der als Anregungs- und Denkfutter dienen soll, Fußball-Journal '11 inklusive.
Hier finden sich täglich Geschichten und/oder Analysen, die ich als passionierter Medien-Konsument selber gern gelesen/-sehen/-hört hätte, aber nirgendwo (oder nur unzureichend) finden konnte; und deshalb selber ausforschen und durchdenken muss.
Heute mit einigem, was mit im Zusammenhang mit dem eben eröffneten Einkaufszentrum am Wiener Westbahnhof nicht ganz klar ist.
Es wird viel gelogen unter den Menschen.
Privat aber auch öffentlich. Sehr viel.
Ökonomisch Verantwortliche lügen, um sich vor der Verantwortung zu drücken, Politiker lügen, um der Komplexität von Erklärungs-Zusammenhängen zu entgehen, Prominente lügen um prominent zu bleiben...
In den meisten Fällen macht mir das nichts aus.
Die Lüge ist ein zentraler Kitt unserer Gesellschaft; sie verbirgt sich in Höflichkeiten, Floskelhaftem und Gefälligem - also allem, was uns als opportun beigebracht wird.
Die Lüge ist die Basis unseres Zusammenlebens.
Wenn der Finanzminister sein Budget, der Direktor seine Personalpolitik, der Chefredakteur seine Reform erklärt, dann können sie oft nicht anders. Das Ausbreiten aller tatsächlich relevanten Gründe würde Menschen, die nicht so intensiv mit der Sache befasst sind (und letztlich sind das fast alle anderen) so verunsichern und zu so vielen saudummen Fragen und Anmerkungen führen, dass jede sinnhafte Arbeit unmöglich wäre. Deshalb funktioniert etwa Basisdemokratie auch nicht wirklich; und weil auch da zuviel gelogen wird.
"Gratuliere Morgi!" - "Super Schlieri!"
Ich habe damit mittlerweile genauso wenig ein Problem wie wenn einander Morgenstern und Schlierenzauer öffentlich zur guten Platzierung gratulieren. Ich weiß sie lügen mir was vor, sie wissen es, die Szene weiß es und selbst die Menschen, die es nicht wissen, erspüren es anhand ihrer verkrampften Gesichtszüge intuitiv.
Lügen ist menschlich, das Erkennen der Lügen aber simpel.
Es gibt echt nur wenige dieser institutionellen Lügen, die mich zu einer sofortigen Reaktion treiben. Sie werden letztlich aus den Gründen, die ich gerade angeführt habe, getätigt, diese Lügen. Und trotzdem kann ich da die sonstige Lockerheit nicht aufbringen.
Eine dieser Lügen, die mich automatisch immer unrund machen, ist die rund um die Ladenöffnungszeiten.
Die sind uns gerade wieder flächendeckend und gebetsmühlenartig vorgelogen worden, diese Lügen. Weil von ein paar Tagen das neue Superduper-Einkaufszentrum, die BahnhofCity eröffnet wurde.
Auf drei Ebenen haben da gefühlte 333 Fetzen-Shops, aberwitzig viele Nahrungsaufnahms-Möglichkeiten und auch sonst alles, was man aus Lugner oder Millenium kennt.
Die Super-Koalition der gesellschaftlichen Bewahrer
Weil diese Geschäfte aber am Bahnhof liegen, gelten andere gesetzliche Bestimmungen. Von wegen länger und vor allem an Sonn- und Feiertagen offen haben.
Das ist in Österreich eine große gesellschaftspolitische Frage. Eine, in der sich zwei alte Mächte, die Kirche und die Gewerkschaften auf eine Weise verbünden, die den Arbeiterführern von vor hundert Jahren die Schamröte ins Gesicht getrieben und einem braven Kirchenfürsten der gleichen Ära die Exkommunizierung eingebracht hätte.
Was dabei rauskommt, wenn diese Koalition des Grauens sich einer Sachlage annimmt bedeutet in jedem Fall: Alle Geschäfte, die länger oder auch am Sonntag offenhaben sind gottlos/ausbeuterisch und es gehören ihnen soviele Prügel wie möglich zwischen die Füße gestreut.
Und genau da setzt die Lügerei ein: Die Experten von Gewerkschaften und Kammern erklären (mit schalmeienumflorten Stimmen), was da wie warum und mit welchen Ausnahme-Regelungen erlaubt ist. Wir spüren die Verlogenheit beim ersten Ton.
Trotzdem ist es nicht möglich, ohne dieses Dickicht an aus der Lüge geborenen Tricksereien auszukommen.
Also: die Gastro und der Reisebedarf (dazu später) darf Montag bis Sonntag von 9 - 21 Uhr offenhalten. Bis 23 Uhr ist es nur der Futterzone im Geschoß direkt an den Zügen gestattet. Die anderen Shops dürfen nur Montag bis Samstag, da gar nur bis 18 Uhr.
Die Reisebedarfs-Lüge, die 80 Quadratmeter-Lüge...
Reisebedarf ist eigentlich eh alles: Bücher, Kuscheltiere, Zahnpasta, Parfum oder Hundefutter zählt die Presse höhnisch auf. Letztlich ist das also eine Regel, die dazu aufgestellt wurde um ausgehöhlt zu werden.
Allerdings dürfen die Reisebedarf-Shops nur 80 Quadratmeter groß sein. Weshalb es einen großen Merkus-Markt (für Mo-Sa) und einen kleinen Merkus-Mini-Markt (für Mo-So) gibt. Wir sind dort gestern vorbeispaziert: dieWarteschlange war von obszöner Größe.
Der Thalia in der Bahnhof-City löst das 80m²-Problem indem er am Sonntag einen Teil seines Shops absperrt.
Das sind nur ein paar Beispiele des Schwachsinns, der aus der gesellschaftlichen Lüge man brauche am Sonntag keinerlei Einkaufs-Möglichkeiten entsteht.
Und das ist nun, mitten im gesellschaftlichen Konsens, dass Lügen das Zusammenleben sichern und regeln, eine Lüge, die ich einfach nicht akzeptieren will.
Ich kann die Ängste der Arbeitnehmer-Vertreter, dass schrankenlose Öffnungszeiten amerikanische Verhältnisse nach sich ziehen können, was Lohn-Dumping, Ausbildungs-Niveau, den Zustrom ungelernter Fachkräfte und somit einer tatsächlicher Ausbeutung nachvollziehn (im Gegensatz zu der Tag-des-Herrn-Verlogenheit von Kirche und Wirtschaftstreibenden, die dieses "Gesetz" bei jeder Gelegenheit eine schnelle Mark zu machen sowieso über Bord werfen).
Zurück in die Hausfraulichkeit der 50er-Jahre
Das kann aber keine Ausrede dafür sein, eine gesamte Gesellschaft in einer 50er-Jahre-Befindlichkeit zu halten, als Geiseln eines rückschrittlichen Familienbildes. Ja, damals hatte die Hausfrau Zeit genug die 9to5-Öffnungszeiten einzuhalten. Im 21. Jahrhundert gelten aber gänzlich andere Normen - Arbeits- und Öffnungszeiten müssen sinnhaft aufeinander abgestimmt werden. Und natürlich gibt es für solche Probleme auch Lösung, ganz unverlogene.
Allerdings blockieren hier ähnliche Beton-Köpfe wie etwa in Fragen der Bildung oder des Föderalismus: lebensferne Interessensvertreter, die auf Basis von überkommenen Ideologien gesellschaftliche Entwicklungen ungestraft ignorieren dürfen.
Wahrscheinlich sind es weniger die Lügen, die abgefeimten Flötentöne der Beschwichtiger und Vernebler, die uns dann die Schwachsinnigkeiten erklären wollen, die ich nicht akzeptieren mag, sondern diese dahinterstehende Betonköpfigkeit.
Denn dadurch ist diese Lüge dann nicht menschlich oder schispringerisch, sondern Ausdruck einer Ideologie, einer Geisteshaltung, die mich in die 50er zurückschießen will.