Erstellt am: 28. 11. 2011 - 20:43 Uhr
Ken Russell, 1927-2011
Heute vormittag, als die Nachrufe auf Ken Russell erst geschrieben werden mussten, kam in den BBC-Radionachrichten ein 1999 aufgenommenes Interviewschnipsel zum Vorschein. Darin beschrieb Ken Russell seine Schwierigkeiten in den letzten Jahrzehnten seiner Karriere, Abnehmer für seine Filmideen zu finden. Eine Produktionsfirma hatte nach sechs Monaten Funkstille eines seiner Manuskripte mit der Bemerkung abgelehnt, es sei „not cinematic enough“.

EPA
„I nearly went mad.“ donnerte Russell, „NOT CINEMATIC ENOUGH? Me??“
Es war dasselbe überhöhte Zürnen, das ich gehört hatte, als mir die Figur Ken Russell zum ersten Mal begegnet war, und zwar in der 1979 erschienen Kino-Doku „The Kids Are Alright“ über The Who, die einen ultrakurzen Ausschnitt eines Russell-Interviews aus der Zeit seiner Verfilmung derer Rockoper „Tommy“ enthält.
Er glaube, tobte der damals schon weißhaarige, dickliche Mann mit dem puterroten Gesicht in einer mit Pailletten besetzten Jeansjacke, dass die Rockmusik „dieses Land aus seinem schläfrigen, dekadenten Zustand erheben“ könne. Mehr als Wilson (Harold, Premierminister) „and all those crappy people“ je zu hoffen wagen dürften.
Der verkappte Moralist
Dieser kleine Satz sagt unglaublich viel über Russell aus. Zum Beispiel dass er als einer, dessen große Leidenschaft in der Klassik bzw. Romantik lag, und der sein Brot zu einem nicht unerheblichen Teil als Opernregisseur verdiente, nicht das geringste bisschen Snobismus gegenüber der Popkultur hegte, ja vielmehr sich selber als Popkünstler bewies, indem er die Popkultur mit ihren eigenen Mitteln – siehe Tommy – durch den Kakao zog, statt sich ihr mit dem Gestus des gealterten Jugendverstehers anzubiedern.
Das Statement enthüllt aber auch den zutiefst moralischen Kern im Schaffen eines Menschen, der zur Zeit seiner größten Erfolge von denselben Zeitungen, die ihn jetzt nach seinem Tod als einen der Großen feiern, als Verderber der Sitten auf den Scheiterhaufen gewünscht wurde. In seinen Augen waren nicht etwa seine eigenen, überbordenden Regisseursfantasien dekadent, sondern das vermeintlich respektable Treiben des politischen Mainstream.

MGM
Ich muss zugeben, dass mir „Tommy“ in seiner gleichzeitig unverschämt aufwändigen und amateurhaften Überdrehtheit lange Zeit unglaublich peinlich war, ganz zu schweigen vom noch wahnwitzigeren „Lisztomania“, einem seiner vielen lose biographischen, gerne auch völlig außer Rand und Band geratenen Komponistenporträts für Fernsehen und Kino (darunter „The Music Lovers“ über Tschaikowski, „Song of Summer“ über Delius, „Mahler“ und die in ihrer Instrumentalisierung des Holocaust umstrittene Anti-Richard-Strauß-Polemik „Dance of the Seven Veils“).
Blut aus dem Goldfass
Irgendwann dann landete ich als Teenager bei einer Ken Russell-Inszenierung in der Wiener Staatsoper, ein gigantisches goldenes Fass mit einem darauf thronenden Bacchus wurde auf die Bühne gerollt, und aus dem Inneren des Fasses quoll knallrotes Blut.
Ich bewege mich hier faktenmäßig auf dem dünnsten aller Böden, nämlich meinen fragmentarischen Jugenderinnerungen. Könnte sogar sein, dass ich das alles nur geträumt habe. Aber es war das erste Mal, dass ich zu verstehen glaubte, worum es Ken Russell in seiner herrlich unsubtilen, genüsslich geschmacklosen, ja geschmacksverachtenden Liebe zum Grotesken ging.

Ken Russell
Ken Russell hat andere Verdienste, von denen weniger Leute wissen. Er filmte zum Beispiel im Jahre 1959 in London eine Doku über die wachsende Popularität der Gitarre.
Hier ein youtube-Link zu einem unglaublichen Clip daraus. Ein noch unergrauter Ken Russell und (mir) unbekannte Gefährtin lassen sich in einem noch unverbauten Bombenkrater in einem Londoner Slum (heute vermutlich eine teure Gegend) vom jungen Davy Graham "Cry Me A River" vorzupfen.

Ken Russell
Nur vier Jahre zuvor hatte Russell für die Illustrierte Picture Post unglaubliche Bilder von Londoner Teddy Girls (Edwardians => Kosename Teds => eben nicht nur Teddy Boys, sondern auch Girls) geschossen. Niemand sonst porträtierte im Nachkriegsgroßbritannien rebellische Jugendliche, schon überhaupt rebellische Mädchen mit dem Blick des Verbündeten.

Ken Russell
Mindestens genauso interessant sind die neulich in einer BBC-Doku beleuchteten Briefwechsel zwischen Russell und den britischen Filmzensoren der Sechziger. Er verfolgte die Mission, die Restriktionen des künstlerischen Ausdrucks, nicht zuletzt in Sachen Sex, mit ständigen Provokationen Stück für Stück zu unterwandern. Bei allem berechtigten, nachträglichen Zynismus gegenüber der sogenannten sexuellen Befreiung der Sixties blieb Russell in seinem Beitrag dazu doch ein glaubhafter Idealist.
Sein größter Triumph in dieser Hinsicht blieb der homoerotische Ringkampf zwischen zwei nackten Männern, Oliver Reed und Alain Bates in seiner Oscar-prämierten Verfilmung von D.H. Lawrences „Women In Love“, nur zwei Jahre nach dem Spionagefilm „Billion Dollar Brain“ mit Michael Caine.

MGM
Russell kämpfte um jeden Zentimeter erstmals auf britischen Mainstream-Kinoleinwänden sichtbarer Penisse. In „The Devils“ ging er mit seiner Darstellung der sexuellen Ausschweifungen lüsterner Nonnen nicht nur den Zensoren, sondern auch dem eigenen Vertrieb zu weit. Soweit ich weiß, gibt es immer noch keinen Director's Cut dieses Films.
Vielleicht gibt es ja hier jemand, der/die über „Altered States“ (das Kinodebüt von William Hurt) oder über spätere Werke wie das von mir nie gesehene „Crimes of Passion“ (1984, mit Kathleen Turner), „Gothic“ (1986, mit Gabriel Byrne als Lord Byron) oder über „Whore“ (1990, mit Theresa Russell) was hinzuzufügen hat, die ich teils versäumt, teils verdrängt habe (für das Urteil meines jüngeren Ich kann ich wie gesagt nicht garantieren).
Ken Russell war 84 und gegen Ende seines Lebens offenbar ziemlich pleite. Er schrieb hin und wieder Artikel und gab Vorträge für FilmstudentInnen. Dass er bei all seinen Verdiensten nie – wie bei britischen Showbiz-Größen Usus – einen Orden von der Königin umgehängt kriegte, spricht nur für ihn.
In den Tiefen des Internet hab ich übrigens eine Facebook-Gruppe gefunden, die 2007 einen Ritterschlag für ihn forderte. Und folgendes wunderschönes Zitat aus dem selben Jahr: "I think I was nearly offered a knighthood years ago when I was doing Women in Love and I was invited three times to the Palace to meet the Queen. She was very nice and we chatted. She seemed to know an awful lot about nude wrestling. I thought she was warming me up for a gong. Then I did The Devils and I think she went off me after that. I don't think it will ever arrive now."