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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

27. 11. 2011 - 23:16

Journal 2011. Eintrag 214.

Gefangen im Verschwörungstheorie-Fegefeuer.

2011 ist Journal-Jahr - wie schon 2003, 2005, 2007 und 2009. Das heißt: Ein täglicher Eintrag, der als Anregungs- und Denkfutter dienen soll, Fußball-Journal '11 inklusive.

Hier finden sich täglich Geschichten und/oder Analysen, die ich als passionierter Medien-Konsument selber gern gelesen/-sehen/-hört hätte, aber nirgendwo (oder nur unzureichend) finden konnte; und deshalb selber ausforschen und durchdenken muss.

Heute mit unserem von Verschwörungstheorien völlig überfrachtetes kollektives Gedächtnis. Am Beispiel des Falles Strauss-Kahn.

Ich verabscheue Verschwörungs-Theorien.
Menschen, die mich mit Gequatsche über 9/11 oder Maya-Kalender-Esoterik, aber auch mit kleingeistig-privatistischen Variationen dieser großen Narrative belästigen, sehen maximal meinen Rücken.
Beides, die Konstruktion von und der Glaube an das System der Verschwörungs-Theorie, stellen für mich die niederste Form des Selbstbetrugs dar, eines Ausreden-Formats, mit dessen Hilfe sich Individuen bewusst ihrer Entwicklung entheben.

Ich kann mich noch gut erinnern, als ich die Meldung von Dominique Strauss-Kahns Hotel-Sex-Skandal hörte. Ich saß in einem Bus, der mich aus einem entlegenen Winkel Österreichs zurück in die Zivilisation brachte; wir hatten sonst nicht viel zu tun, hörten die Nachrichten und da war es die Spitzenmeldung; wie europaweit wohl überall. Und das allererste was mir damals in den Sinn kam, war die Frage nach der Relevanz und der Verhältnismäßigkeit.
Der Vorwurf eines sexuellen Übergriff, ja; der Chef des Internationalen Währungsfonds, okay - aber: reicht das, zu einem Zeitpunkt, wo außer einem Vorwurf nichts am Tisch liegt, für eine Spitzenmeldung?
In den zweiten Nachrichten des Abends tauchte dann ein Fakt auf, der mir als jemand, der die französische Innenpolitik wirklich nur schleißig verfolgt (wobei ich mich in der Gesellschaft von 99% der Österreicher befinden werde) entgangen war: dass DSK als sozialistischer Gegenkandidat zu Sarkozy gehandelt wurde. Insofern war klar, warum die Sache in Frankreich ein Erdbeben auslöste.

Die Seltsamkeiten der Strauss-Kahn-Affäre

Seitdem ist dies- und jenseits des Atlantiks viel passiert: letztlich bot sich das Bild einer filmreifen Intrige.

Und jetzt, Monate nach dem Freispruch für DSK (der seit der Untersuchung raus ist aus dem Rennen um die Präsidentschaft) finden sich nach investigativen Recherchen deutliche Belege für ein abgekartetes Spiel, ein komplex inszeniertes Framework.

Dass unterstützt einerseits das von Anfang an vorhandene seltsame Gefühl bei der ganzen Sache.
Die Zutaten sind verführerisch: Strauss-Kahn, der Spross der reichen elsässisch-jüdischen Familie, der saftige Lebemann, den die zuletzt mit charismatischen Figuren nicht gerade gesegneten französischen Sozialisten dem machtbedachten Sarkozy entgegensetzen wollten... Die Motive für eine vorzeitige Demontage von DSK sind also aufg'legt.

Andererseits wird die Affäre auch der Geruch der Verschwörungs-Theorie nicht los. Denn genau die saftigen Zutaten (die Parallelen bis hin zur Dreyfus-Affäre evozieren), lassen sich in jeder Hinsicht gut in ein Netzwerk an Verschleierung und klischeehafter Verdächtigung einordnen.

Das große Problem, das uns Außenstehende vom Dahintersteigen abhält, ist unser mit ähnlichen Mythen und G'schichterln völlig überfrachtetes kollektives Gedächtnis. Wir sind in einem Fegefeuer der Verschwörungstheorie gefangen. Jeder weiß jedem etwas noch Wilderes, Ärgeres und Unglaublicheres zu erzählen, aus sicheren Quellen oder über vergleichende Logik.

Opfer, Täter, Monster, allesamt Marionetten in einer Soap

In diesem Denksystem gefangen, ist an eine Befreiung nicht mehr zu denken.

Zuerst, nach der Anschuldigung, wurde DSK mit Zuschreibungen, Vermutungen, Schmutzgeschichten und Vorhaltungen überhäuft - er galt als Prototyp des schmutzigen alten Mannes.
Dann, nach den ersten Recherchen war es die Anklägerin, die im Bild der Öffentlichkeit innerhalb von Minuten von der heiligen Mutter Theresa zur abgefuckten Crack-Nutte abstürzte. Plötzlich war auch ihre Identität bekannt.
Jetzt wird sich die pauschalierende Verdächtigung auf die Gegner ausweiten, auf das Sarkozy-Netzwerk. Mal sehen, wie weit das geht, dreckig wird es allemal.

Und letztlich ist das dann auch alles was hängenbleiben wird: alle haben Dreck am Stecken, alle sind Täter, alle sind Opfer, alle sind Monster.

Das dient zum einen zu unserer Unterhaltung. Der DSK-Fall wurde zu einer erfolgreichen globalen Soap aufgeblasen, an deren Ende alle verlieren.
Das dient aber auch zur Destabilisierung der Demokratie.
Zuerst der gruselige Schauer, dass man da fast einen lüsternen Lebemann zum Präsidenten aufgebaut hatte; dann der gruselige Schauer, dass man fast einer doppelzüngigen Kronzeugin auf den Leim gegangen war; und jetzt der gruselige Schauer, dass ein großer Président Evil als Drahtzieher eine borgiamäßige Intrige gestartet hat - all das trägt nur zur "alles Schweine außer Mutti!"-Gefühligkeit bei, die uns irgendwann in eine Postdemokratie katapultieren wird, die ausschließlich mit solcher Schauer-Tricks arbeiten wird.
Deswegen kann ich mich an der Epstein-Recherche so verführerisch sie auch glitzert, nicht erfreuen.