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Christian Stiegler

Doktor für grenzwertiges Wissen, Freak-Shows und Musik, die farblich zu Herbstlaub passt.

27. 11. 2011 - 13:33

Broken Voices

Wahrhaftige Stimmwunder sorgten für das Finale beim Blue Bird Festival: Asaf Avidan, Rae Spoon, Woodpigeon und Tunng.

Es war etwa 2 Uhr morgens, als die letzte Torte angeschnitten wurde. Es gehört fast schon zur Tradition, dass jeder Tag beim Blue Bird Festival mit dem Anschneiden einer blauglasierten Schokotorte sein Ende findet, dieses Mal geschah die letzte Zeremonie vor vollbesetztem Haus. Kein Wunder, der Samstag bot ein von vielen erwartetes Line-Up.

Manche, so wie ich, waren noch im Bann des Vortags: Man denke nur an die wunderbare Cherylin MacNeil alias Dear Reader, die sich ein kleines Orchester aus heimischen Musikern zusammenwürfelte, und ein wirklich berührendes Set mit Bruce Springsteen-Finale bot. Oder die sich dauernd selbst loopende Wendy McNeill, die mit schwer atmendem Akkordeon und getupfter Kesselpauke so manche Seemannsgeschichte erzählte. Oder auch die hypnotisierende Rykarda Parasol, ein sexy Vamp in Blond, düster und anziehend, angepisst und stampfend. Es war so etwas wie der Frauenschwerpunkt am Freitag, mit dem Quotenmann Norman Palm.

Dear Reader beim Blue Bird Festival

Hanna Pribitzer

Die wunderbare Cherylin, die auch privat Klavierunterricht gibt.

Der Samstag war wieder stärker männerdominiert, obwohl so manchem der Geist von Janis Joplin erschienen sein soll. Gleich mehr dazu.

Die Stadt-Muzikanten

Zuerst einmal: Mark Hamilton, der Sänger der kanadischen Band Woodpigeon, hatte im Porgy & Bess quasi ein Heimspiel. Seine Oma stammt aus Simmering, deutsche Songtitel wie "Oberkampf" und "Die Stadt Muzikanten" fließen bei ihm in die Texte ständig ein und pssst: in naher Zukunft zieht Hamilton auch selbst nach Wien, um hier zu werkeln. Darauf kann man sich nur freuen, denn Woodpigeon, die ihren Namen einer fliegenden Ratte entlehnt haben, waren für mich im Vorfeld des Festivals der Geheimtipp schlechthin. Das lag vor allem an den atmosphärischen Stücken der Band, dem gebrochenen Herzen, das Hamilton immer wieder auf offenen Händen trägt, den etwas philosophisch anmutenden Songs wie "And As The Ship Went Down, You'd Never Looked Finer". Brachialer Optimismus: Hamilton hat sich vor dem Auftritt sogar seinen Bart abrasiert, um dem Klischee des bärtigen Folk-Artists doch nicht ganz zu entsprechen.

Woodpigeon

Hanna Pribitzer

Alle Fotos von Hanna Pribitzer von der Vienna Songwriting Association

An manchen Erwartungen können Woodpigeon dann doch nicht vorbeischrammen, und das ist gut so: Bereits der erste Song, den Hamilton noch allein an der Gitarre spielt, endet mit einem hinreißenden Gitarrensolo, durch den Loop geschickt, in der Atmosphäre verpufft. Das Schöne an diesem Set ist die Improvisation: Immer wieder probiert Hamilton neue Loop-Ideen aus, klopft rhythmisch aufs Mikro, schnippt mit den Fingern, erzeugt so einen dröhnenden Beat, obwohl nicht immer akustisch ganz astrein.

Das Ende ist besagtes Lied vom untergehenden Schiff, auf dem wir alle sitzen, aber solange wir gut ausschauen dabei, mache es nichts aus. Dabei gelingt es Hamilton seine eigene Stimme im Dröhnen der Gitarren untergehen zu lassen, symbolisch für das ganze Schiff. Der erste Moment an diesem Abend, an dem mir leicht die Tränen in die Augen steigen. Das Beste an der Nachricht, dass Hamilton nach Wien zieht, ist, dass wir ihn bald öfters sehen werden.

Woodpigeon

Hanna Pribitzer

Rae Spoon ist manchen Wiener Konzertgehern ein Begriff. Bereits viermal war die Ein-Mann-Elektrofolkfabrik schon in der Stadt. Der in Montreal lebende Transgender-Musiker schätzt das Understatement: Allein mit seinem Laptop und der Gitarre erzeugt er eine spröde Intimität, und vermag dabei ganz herzliche Geschichten zu erzählen. Etwa, dass jeder in Kanada mal das Haus von Leonard Cohen besuchen müsse. Cohen würde dann wohl als Zeichen seiner Gunst das Licht einschalten, ein Zeichen, auf das alle Kanadier im Leben zu warten haben. Bei Morrissey klappe das weniger gut, der lebe ja schon lange nicht mehr in Manchester.

Rae Spoon

Hanna Pribitzer

Mit allzu trockenem Humor öffnet Rae Spoon eine Büchse der Pandora, dabei aber gleichzeitig mit einem Schulterzucken im etwas zu großen Sakko, weil man es eh nicht ändern kann. Er singt seine Songs wie eine Anekdote, stark beeinflusst vom (unglücklich gewählten) Genre-Begriff "Folktronica". Aber das ist ein bisschen mehr als Folk und Elektronik, das ist eine zutiefst offene und gleichzeitig poppige Darbietung, die an manchen Stellen an Toph Taylor erinnert. Dieses Jahr hat eigentlich kein Künstler so rasch die Sympathien des Publikums gewonnen, aber das wundert auch nicht: Rührend und gleichzeitig tanzbar sein, kommt halt gut.

Stimmen aus dem Jenseits

Begegnen konnte man Asaf Avidan bisher nur im Kino. Mit dem Titelsong der berührenden Mutter-Tochter-Geschichte in "The Tree" mit Charlotte Gainsbourg konnte der israelische Songwriter manchen Kinobesucher dazu bewegen, nach dem Film doch noch im Sessel sitzen zu bleiben. Obwohl: Das ist der klassische Fall von "Das Lied mag ich, aber hab keine Ahnung, von wem es ist". Hat man beim Abspann nicht aufgepasst, ist einem der wohlklingende Name Asaf Avidan eventuell entgangen.

Asaf Avidan

Hanna Pribitzer

Asaf Avidan

Hanna Pribitzer

Zum Glück gibt es das Blue Bird-Team, das in mühevoller Recherche den Jungen ausfindig gemacht hat. Warum? Wegen seiner Stimme. Zugegeben, der erste Eindruck verschreckt und klingt ein wenig wie Janis Joplin, die an einem Heliumballoon gezogen hat. Aber spätestens nach ein paar Zeilen hat man sich an das hohe, teils an ein Reibeisen erinnende Organ gewöhnt und entdeckt einen Künstler, der eine dermaßen starke Intensität in seine Songs legt, dass es schon wieder weh tut. Man muss sich vorstellen: Der Mann steht ganz allein mit seiner Gitarre auf der Bühne, die Stimme ist nicht einfach, trotzdem geht sie einem nicht aus dem Ohr. Denn sie bricht ständig, ist ein konstantes Klagelied, schlängelt sich an den Tonleitern der Gitarre herab wie Ahornsirup auf Pfannkuchen. Das ist nicht nur ein Songwriter, der sein Herz im wahrsten Sinne des Wortes aus der Brust reißt, es ist die Inkarnation all jener Stimmen, die nicht mehr zu hören sind, weil viel zu früh von uns gegangen, von Elliott Smith über Nick Drake bis Janis Joplin. Ein zutiefst berührender Auftritt - und ich muss unbedingt "The Tree" sehen.

Wenn Opern-Arien auf Countrysongs treffen, handelt es sich um Flotation Toy Warning. Die Band um Sänger Paul Carter steht für einen etwas verschrobenen Popmix: prähistorische Klaviere, singende Sägen und Vocoder malen ein verstörendes und zugleich anziehendes Bild, wie von einem Gemälde von Francis Bacon. Für viele hat das Space-Rock-Quintett mit "Bluffer's Guide to the Flight Deck" eines der besten Alben der letzten Jahre vorgelegt, ihre Lieder sind wahre Hymnen. Grund genug, dass die Band nach 2005 nun wieder beim Blue Bird Festival spielte. Nun sechs Jahre später ein Comeback, allerdings mit ein paar Abstrichen. Denn die melancholische Mischung aus viel Pathos und Psychedelic, eine etwas poppigere Variante der Tindersticks, kommt an manchen Stellen zu bieder und ernst rüber, zumindest hatte es auf mich den Eindruck. Sichtlich bemüht ackerte sich die Band von Song zu Song, Sänger Carter machte sich breit und sang mit tiefer Stimme wie in einer Oper, so richtig überspringen wollte der Funke bei mir leider nicht.

Flotation Toy Warning

Hanna Pribitzer

Das große Finale an diesem Abend lieferte die britische Combo Tunng. Mit Soundtracks zu Werbesports und Soft-Pornofilmen (!) hat die Band früher ihr Geld verdient, heute ist die Gruppe fein raus, denn immer wieder gern gesehener Gast auf verschiedenen Festivals. Aber das Blue Bird ist anders, hier wird Interaktion mit dem Publikum großgeschrieben, und das nutzen Tunng an diesem Abend voll aus. Und die Band ist durchaus auch etwas verrückt, denn immer wieder werden Instrumentalstücke ins Set eingebaut, Sänger Mike Lindsay ist sich auch nicht zu schade einmal eine Sonnebrille aufzusetzen und den großen Macker mit einem fulminanten Gitarrensolo raushängen zu lassen. Leider konnte die wunderbare Becky Jacobs nicht in Wien dabei sein, aber Bassist Ashley Bates mit seiner Halbglatze-und-doch-Mähne machte das mit dem Aufsetzen eines Nikolo-Hutes jederzeit wett. Hatte man zuvor das Gefühl, als würden sich Flotation Toy Warning zu ernst nehmen, sind Tunng allzu selbstironisch, immer wieder setzt sich Mike Lindsay mit Posen in Szene. Natürlich warten alle nur auf zwei Lieder: "Hustle" und "Bullets" - die kommen dann auch, und es wird sogar vor der Bühne getanzt. Jetzt gibt es kein Halten mehr, knapp vor 2 Uhr morgens ist auch alles egal.

Hanna Pribitzer

Zum Frühstück gibt es blauen Schokokuchen - an drei Tagen im Jahr sind die Kalorienbomben schon in Ordnung. Man gönnt sich ja sonst nichts.