Erstellt am: 26. 11. 2011 - 10:12 Uhr
Die Fantastischen Fünf
von Jenny Blochberger
Ein wenig schwer getan habe ich mir schon mit der selbst gestellten Aufgabe, die fünf besten, wichtigsten Fantasy-Werke auszusuchen. Wie umgeht man es, dem geschätzten Leser zum millionsten Mal etwa den zweifellos wichtigen Herrn der Ringe ans Herz zu legen, oder verhindert Gähnanfälle bei der wiederholten Lobpreisung des durchaus wunderbaren Harry-Potter-Zyklus?
- My Fantasy Kingdom: Die Fantasywoche auf FM4
Und so werden diese Werke, die einem sofort assoziativ zum Begriff „Fantasy-Literatur“ ins Hirn schießen, hier erst mal ausgeklammert - eben weil es in diesem extrem breitgefächerten Genre noch viel mehr gibt, was ebenso wichtig, aber weniger bekannt ist.
Unter dem Weihnachtsbaum sollten also für den Fantasy-Einsteiger folgende Werke liegen (die Reihung ist dabei eine willkürliche):
1. Gormenghast von Mervyn Peake (erschienen 1946 - 1959)
eyre and spottiswood
Gormenghast ist ein düsteres, riesiges Gemäuer, ein Moloch von einem Schloss, sozusagen die Alptraumversion von Disney´schen Märchenschlössern. Seine feuchten Mauern, endlosen Gänge, spinnwebverhangenen Türme und seit Jahrzehnten unbetretenen Trakte gehen eine niederdrückende Verbindung ein mit der jahrhundertealten, verstaubten Tradition, die den Grafen von Gormenghast endlose, sinnlose Rituale aufbürdet.
Das steinerne Monster Gormenghast ist der eigentliche Hauptdarsteller in diesem Epos, das aufgrund von Peakes frühem Tod nur drei (statt der ursprünglich geplanten acht) Bände umfasst - der Namensgeber des ersten Bandes, der junge Graf Titus, kommt ein ganzes Buch lang überhaupt nur als Baby vor. Im Rampenlicht steht anfangs der ambitionierte Küchenjunge Steerpike, der ganz im Gegensatz zum beliebten Fantasy-Topos des armen Bauernjungen, der das Königreich rettet und die Prinzessin heiratet, eine ganz und gar verabscheuenswürdige Kreatur und gleichzeitig einer der interessantesten Bösewichte der Literaturgeschichte ist. Steerpikes eigentliches Metier ist die Politik, er ist ein Meister der Manipulation und nutzt die starren Traditionen von Gormenghast ebenso zu seinem Vorteil wie die Sehnsüchte der wenigen Menschen, die sich ein anderes, freieres Leben erträumen.
Kein einfaches Buch - die akribischen, detailgenauen Beschreibungen erfordern ein hohes Maß an Konzentration, die vielen Charaktere überbieten einander an Exzentrizität, Tod und Wahnsinn sind omnipräsent. Von wegen Fantasy = Eskapismus - Gormenghast, meine Herrschaften, ist starker Tobak, hohe Literatur, gehaltvoll wie ein kleines Steak oder wie schwerer, dunkler Rotwein.
2. Der König auf Camelot von T.H.White (erschienen 1938-1958)
Klett Cotta
Unzählige AutorInnen haben sich bereits an der Artus-Sage abgearbeitet. Mit ihrem Dream Cast aus Helden und Schurken, dem Liebesdreieck Artus-Ginevra-Lancelot sowie einer gehörigen Portion Magie (mitunter auch christlich verbrämt), ist die Geschichte um den legendären Großkönig, der die Sachsen aus Britannien vertrieben haben soll, ein dankbarer Stoff.
Nie wurde die Geschichte origineller, warmherziger und sachkundiger erzählt als in "The Once And Future King" von T.H. White, auf Deutsch „Der König auf Camelot“. White erzählt salopp, witzig und ohne übertriebenen Respekt vor dem großen Thema; mitunter packt er eine gehörige Portion exzellent beschriebenen Slapsticks mit hinein (etwa wenn sich König Pellinore auf der Jagd nach dem Queste-Biest in der Leine seines Jagdhundes verheddert), mit jedem Buch des vierbändigen Zyklus wird der Ton aber ernster, düsterer, ohne eine gewisse Leichtigkeit zu verlieren. White interessiert sich nur vordergründig für schöne Maiden, edle Ritter und Abenteuer - in Wirklichkeit geht es ihm um die menschliche Natur und die ideale Gesellschaftsform. Seine Ritter und Könige sind echte Menschen: Lancelot ist ein hässlicher, von Selbstzweifeln geplagter Komplexler, der unmenschlich hohe moralische Ansprüche an sich selbst stellt, an denen er unweigerlich scheitern muss; Ginevra ist widersprüchlich, gleichzeitig launisch und großzügig, zänkisch und liebevoll; Artus wäre auf den ersten Blick leicht abzustempeln als naiver Träumer - aber es ist eine kalkulierte Naivität, ein bewusstes Beharren auf dem Gutsein des Menschen und der Umsetzbarkeit einer besseren Gesellschaftsordnung, im Wissen darum, dass nur so eine Veränderung überhaupt möglich ist.
White würzt seinen Ritterroman mit amüsanten anachronistischen Einsprengseln und driftet mitunter ins genüssliche Dozieren ab; nach der Lektüre weiß man mehr über die Falknerei, über Rüstungen und darüber, wie Turniere im Mittelalter abgelaufen sind. Vor allem aber hat man ein Stück Literatur gelesen, das einen entzückt, zum Lachen und Nachdenken gebracht und vielleicht die eine oder andere Träne entlockt hat.
Übrigens: normalerweise bin ich sehr dafür, alles im Original zu lesen, solange man die Sprache gut beherrscht. In diesem Fall ist die deutsche Übersetzung von Rudolf Rocholl aber absolut zu empfehlen.
3. Die Scheibenwelt-Romane von Terry Pratchett
Heyne
Fantasy gilt ja gemeinhin als humorloses Genre. Oft geht es um die Rettung der Welt und die Bekämpfung des ultimativ Bösen - nicht gerade Situationen, in denen man übermäßig zum Scherzen aufgelegt ist.
Außer man heißt Terry Pratchett und lässt seine Scheibenwelt auf vier gigantischen Elefanten ruhen, die wiederum auf dem Rücken einer riesenhaften Schildkröte stehen, die durch das Universum wandert. Auf dieser Scheibenwelt tummeln sich unfähige Zauberer, bissige Gepäckstücke und mürrische Omas, die bei Bedarf ihre Hexenkünste auspacken. Allgemein wird Pratchett als Fantasy-Counterpart von Douglas Adams gesehen, dessen Romane eher in einem Science Fiction-Setting spielen. Tatsächlich ist der sehr britische, trockene Humor ähnlich, ebenso wie das Ad-absurdum-führen von genretypischen Klischees. Während Adams-Apologeten einander an der verschwörerisch gemurmelten Zahl 42 erkennen, sobald das Gespräch auf den Sinn des Lebens kommt, meinen Pratchett-Jünger in Kapitälchen die Stimme des Todes zu erkennen – übrigens ein umgänglicher Zeitgenosse, der seinen Job mit einer gewissen Gleichmut erledigt und eine Schwäche für Kätzchen hat.
4. Die Königsmörder-Chroniken von Patrick Rothfuss (erschienen 2007 & 2011)
Zwei Bände sind bisher von Patrick Rothfuss´ als Trilogie angelegtem Werk "The Kingkiller Chronicle" erschienen. Der Held, Kvothe, muss als Kind miterleben, wie seine zum fahrenden Volk gehörenden Eltern von dämonenartigen Wesen abgeschlachtet werden. Sein ganzes Streben gilt in Folge der Suche nach den Mördern. Sein Weg führt ihn zunächst an die Universität von Imre, an der verschiedene Gegenstände gelehrt werden, die das gemeine Volk unter dem Überbegriff „Zauberei“ kennt. Kvothe erweist sich als überaus talentierter Schüler; darüber hinaus ist er ein Barde, der seine Zuhörer mit seiner Sangeskunst zu Tränen rührt, zeichnet sich durch flammend rotes Haar und gutes Aussehen aus und steht insgesamt in der Tradition des klassischen Helden, der beinahe übermenschliche Fähigkeiten besitzt. Rothfuss bemüht sich, Kvothe mit ein paar Charaktermängeln auszustatten und ihn einige Male auf die Nase fallen zu lassen, schafft es aber nicht ganz, ihm die Mary-Sue-haftigkeit auszutreiben. Es handelt sich bei der Kingkiller Chronicle um klassische Fantasy - Magie, ein heldenhafter Protagonist, Abenteuer und geheimnisumwitterte Legenden spielen eine Rolle. Es ist weniger die fantastische Welt, die Patrick Rothfuss entwirft, die fasziniert, es ist die Sprache. Poetisch, lyrisch, dicht und spannend. Dieser Autor begnügt sich nicht damit, Fantasyklischee an Fantasyklischee zu reihen (I´m looking at you, Christopher Paolini!), sondern findet seine ganz eigene, faszinierende Sprache, um Altbekanntes neu glänzen zu lassen.
5. Das letzte Einhorn von Peter S. Beagle (erschienen 1968)
weltbild
Das Einhorn lebte in einem Fliederwald, und es lebte ganz allein. Es war sehr alt, ohne etwas davon zu wissen, und es hatte nicht mehr die flüchtige Farbe von Meerschaum, sondern eher die von Schnee in einer mondhellen Nacht. Seine Augen aber waren frisch und klar, und noch immer bewegte es sich wie ein Schatten über dem Meer.
So beginnt einer der schönsten Klassiker der Fantasyliteratur. Viele werden die Zeichentrickverfilmung kennen; die hat zwar ihren eigenen Charme, kippt letztendlich aber doch immer wieder in die Kitschfalle, die das Buch von Peter S. Beagle mit Leichtigkeit tänzelnd vermeidet. Auch hier ist es das Brechen von bekannten Mustern das eigentlich Spannende - neben der poetischen, zum Weinen schönen Sprache. Das Einhorn, das allein in einem Wald lebt, macht sich auf die Suche nach den anderen Einhörnern, die vom Roten Stier vertrieben wurden; seine Wegbegleiter sind der unfähige, aber herzensgute Zauberer Schmendrick und die Räuberbraut Molly Grue. Beagle spinnt aus diesen herkömmlichen Zutaten ein modernes Märchen, eine bittersüße Erzählung über Träume, Sehnsüchte und was das Menschsein bedeutet.
Wie schon erwähnt, ist es ein Ding der Unmöglichkeit, das Genre Fantasy auf nur fünf wichtige Werke runterzubrechen (Versuche, die fünf wichtigsten Alben des Genres Popmusik zu bestimmen, scheitern ebenso regelmäßig wie kläglich) – deswegen hier noch weitere Tipps zum Anlesen, Schmökern und Sich-unsterblich-in-ein-Buch-verlieben:
Der Zyklus „A Song of Ice And Fire“ von George R.R.Martin (bekannt durch die TV-Verfilmung des ersten Bandes, „Game of Thrones“) ist ein blutiger, fesselnder Ausflug in eine mittelalterliche Welt, die weniger durch Magie als eher durch Krieg und politische Intrigen geprägt ist. Absolut lesenswert, nur sein Herz sollte man nicht an einzelne Figuren hängen, denn dem Gemetzel entgehen auch wichtige Charaktere nicht…
„Nine Princes in Amber“ von Roger Zelazny gilt als New-Wave-Fantasy; auch hier geht es mitunter recht brutal zu, wenn ein Clan von unsterblichen Prinzen gegeneinander um die Krone der einen wahren Stadt Amber kämpft und dabei auch unserer Welt einen Besuch abstattet.
„Fool on the Hill“ von Matt Ruff ist ein fantastischer, von Ideen übersprudelnder Campusroman; „A Winter´s Tale“ von Mark Helprin ist eine Ode an New York, eine Great American Novel epischen Ausmaßes; und zum Schluss sei mir noch ein kleiner Ausreißer von der Fantasy in Richtung dystopischer Roman erlaubt, einfach weil man Suzanne Collins´„The Hunger Games“ (dt. „Die Tribute von Panem“) unbedingt gelesen haben sollte, bevor die Verfilmung nächstes Frühjahr ins Kino kommt. Aber nur, wenn man es gerne mag, von einem Buch eingesogen, gründlich durchgekaut und am Ende völlig mitgenommen wieder ausgespuckt zu werden.