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Christian Stiegler

Doktor für grenzwertiges Wissen, Freak-Shows und Musik, die farblich zu Herbstlaub passt.

25. 11. 2011 - 13:33

Welcome To The Carnival

Etwas für Träumer: Das Blue Bird Festival startete mit L/O/N/G, Erland & The Carnival und den bezaubernden Pascal Pinon.

Ein Tag voll dunkelgrauer Schatten.

Ein Tag, der wieder daran erinnert, wie dankbar wir sein müssen, dass Künstler ihr Talent, ihr Seelenleben, oft ihre tiefsten Abgründe mit uns teilen. Abgründe, die die meisten von uns zu vergessen hoffen und in unseren hintersten Ecken verstecken. An diesem Eröffnungsabend beim Blue Bird Festival 2011, der wichtigsten heimischen Institution in Sachen Songwritertum, hat niemand über Tote gesprochen, aber allein die Tatsache, dass all diese Künstler ihre Sets mit Hingabe und teilweise Aufgabe dargebracht haben, war ein stiller Tribut, ein Fingerzeig, dass es nicht aufhören darf und Rückschläge nicht das Ende bedeuten müssen. Oder um es abgewandelt mit einem ganz Großen zu sagen, der auf uns runterschaut: "Komm, großer blauer Vogel, komm jetzt!"

Mika Vember war die Erste. An ihr kommt man derzeit einfach nicht vorbei, kürzlich hat sie im Burgenland bei einem Musikcamp für Mädchen den Girls beigebracht, wie man gute Songs schreibt. Natürlich nicht mit "Creative Writing"-Anleitungen, sondern mit der simplen und dabei gleichzeitig so schwierigen Formel die eigene Stimme zu finden. Und ihr Auftritt belegte, dass sie ihre gefunden hat. Eine präsente Performerin, ausgereifte Songs, ein liebevolles Line-Up und Mut zur verwienerischten Cover-Version. "Creep" von Radiohead darf es sein, kurze Erinnerung daran, dass die Verkopften aus Oxford mal so angefangen haben. Und in all diesen Momenten, an denen die freischwingenden Zungen des Akkordeon den einen oder anderen dunkelgrauen Schatten heraufbeschwören, tritt Mikas starke Stimme in den Vordergrund. Und wie präsent! Sie erzählt von Online-Shops, die Körperteile verkaufen, von Herzschmerz und Himmelhochjauchzen. Im Kopf dreht sich bei mir ein Karussel, ich komme mir vor wie in einer Wizard of Oz-Version des Wurschtlpraters. Bleibt zu sagen: Danke, Mika, you're so fucking special.

Mika Vember

Hanna Pribitzer

Carnival of Freaks

Alle Fotos von Hanna Pribitzer von der Vienna Songwriting Association

Grundsätzlich ist Pasqual Pinon ein Freak. Natürlich nicht abwertend gemeint: Im Viktorianischen Zeitalter war es üblich, Menschen mit ungewöhnlichem Aussehen in sogenannten Freak-Shows auf Jahrmärkten und Messen auszustellen. Teil des Körperkultes dieser Zeit: Die als normal betrachtete Körpernorm wurde durch die ausgestellte Abnormalität bestätigt. Und besagter Pasqual Pinon war ein Freak mit zwei Köpfen Anfang des 18. Jahrhunderts, wie sich später herausstellte, handelte es sich weniger um einen zweiten Kopf, sondern um einen enormen Tumor auf seiner Stirn, den er zu Schauzwecken als Gesicht bemalt hatte.

Pascal Pinon

Hanna Pribitzer

Und diese durchaus widerliche Hintergrundinfo führt uns nun zu einem entzückenden Zwillingspaar aus Island: Jófrídur und Ásthildur, beide sind gerade mal 17 Jahre jung und haben sich nach eben diesem Zweiköpfigen benannt: Pascal Pinon. Zwei hochtalentierte Musikerinnen, die eine sehr interessante Herangehensweise an Songs haben. Beeinflusst von Größen wie Elliott Smith nehmen die beiden ihr ersten Album praktisch in Lo-Fi-Manier im Alleingang auf, soundtechnisch unterstützt durch Spielzeug-Schellen, Rasseln und Xylophone. Natürlich werden hier einige Klischees bedient (Elfen-Alarm!), aber wer sich auf die Zwillingsschwestern mit ihren beiden gleichaltrigen Bandkolleginnen beim Blue Bird eingelassen hat, wurde wohlwollend überrascht. Lieder teilweise in Isländisch, teilweise in Englisch, aber immer im vierstimmigen Gesang, unterbrochen von diabolisch-genialen Songansagen über Morde, die eigentlich nicht beabsichtigt waren. Musikalisch eine Traumlandschaft aus akustischen Gitarren und Glöckchen, ein bisschen wie die Suche nach dem letzten Einhorn. An kompositorischer Finesse mangelt es Pascal Pinon bestimmt nicht. Und sie trugen keine Schuhe on stage, auch irgendwie lieb. Nicht auszudenken, was die vorlegen, wenn sie mal volljährig sind.

Pascal Pinon

Hanna Pribitzer

Budam ist ein ganz besonderer Künstler von den Färöer Inseln - Sänger, Songwriter, Schauspieler und Theaterkomponist. Besonders deshalb, weil er sich nach der Vorstellung einfach vor das Mikrofon stellt und einige Momente einmal nichts tut und nur tief atmend ins Publikum starrt. Diese Unterbrechung des gewohnten Ablaufs verstört schon mal, aber das, was danach folgt, ist noch verstörender: Wie ein Wolf heult Budam ins Mikro, singt von seinem Vater, der ein Elefant sei und stellt uns relativ unironisch Mr. King vor, seine Gitarre. Mr. K. müsse auch mal sterben, aber bestimmt nicht heute, aber irgendwann einmal. In manchen Momenten denkt man sich schon, dass Budam ein bisschen durchgeknallt ist, aber irgendwie auf eine gute Weise, voller Leidenschaft für sein eigenes Schaffen, das er als ein Gesamtkunstwerk mit vollem Körper- und Stimmeinsatz präsentiert. Und dann darf das Publikum singen, eine kleine Melodie summen. Funktioniert beim 2. Mal nicht mehr so gut, laute Rufe "Sing the Song!" führen zu nichts, das Publikum ist verwirrt, nicht eingestimmt, Budam bricht ab. Absichtlich versteht sich. Ich habe nicht alles verstanden, aber Mr. K. und Budam wünsche ich ein langes Leben.

Budam

Hanna Pribitzer

Carnival of Sorts

Dann folgen Erland Cooper und seine Jungs. "Jungs" ist gut, es handelt sich um Legenden wie Simon Tong, den man bestens von The Verve, Blur, The Good The Band And The Queen kennt. Erland Cooper ist der Chef, ein ziemlicher spinniger, schlacksiger Typ, den man in Gesprächen kaum ernst nehmen kann. Aber immerhin erinnerte er sich an unser letztes, als wir über - wen wundert es - Freak-Shows gesprochen haben, damals ausgelöst durch die Tatsache, dass die gesamte Band bei ihrem ersten Album ein Faible für Ziegenmasken hatte.

Erland & The Carnival sind wohl eine moderne Fortführung verschiedenster Einflüsse: Sie sind enorm vom Folk der 60er beeinflusst, genauso wie von Brit-Pop, Gospel, Psychedelic oder britischen Traditionals. Ihre Texte nähern sich immer wieder an Lyrik an, unter anderem von Leonard Cohen oder William Blake. Daraus ergibt sich eine wüste, aber interessante Mischung aus scheppernden Gitarren, galoppierenden Drums und psychedelischen Keyboard-Klängen. Der breite Rahmen macht diese Band aus, die besten Stücke ihrer bisher beiden Alben vermischen sie zu einem abwechslungsreichen und vor allem lauten Set am Blue Bird. "Trouble In Mind", "Was You Ever See", "You Don't Have To Be Lonely" und mein absolutes Highlight "The Echoing Green" sind nur einige Perlen dieser Band, aber immer auch so sperrig, dass sie nicht massentauglich genug sind. Erland Cooper ist dabei der ideale Frontman, während des Gigs beschwört er immer wieder seine Gitarre und spielt mit kleinen Transistorgeräten, die wirre Geräusche von sich geben. Der erste Wien-Auftritt der Band schreit nach einer Fortsetzung.

Erland and the Carnival

Hanna Pribitzer

Mit L/O/N/G tritt dieses Jahr das wohl spannendste Projekt beim Blue Bird auf. Wenn man vor allem Chris Eckman kennt, weiß man, dass die Walkabouts-Legende ein Faible für kleinere Nebenprojekte hat, oft bleiben sie leider nur einem kleinen Kreis Eingeweihter vorbehalten. Auch L/O/N/G, das gemeinsame Projekt von Eckman und dem Wiener Soundtüftler Rupert Huber, bekannt von Tosca-Verdiensten, drohte mit ihrem Album "American Primitives" ein Geheimtipp zu bleiben.

L/O/N/G

Hanna Pribitzer

Wie sooft ist es dem Blue Bird Festival zu verdanken, dass solche Acts dann doch aus den hinteren Reihen der Regale nach vorne geholt werden - das kommt sogar so überraschend, dass die Künstler auf diese Weise zu ihrem ersten wirklichen Live-Gig kommen. An diesem Abend spielen L/O/N/G zum ersten Mal ein wirklich durchgeprobtes Set, bereits im September hat man sich in Wien zum Austesten getroffen. Da darf es dann auf der Bühne schon mal ein echtes Klavier sein, mittendrin im Kabelsalat von Laptop, Keyboard und allerlei elektronischen Geräten, die den handgemachten Stoff mit Soundcollagen aus der Technologie erweitern. Bedeutet: Eckmans Wolfsheulen trifft auf wummernde Beats und gefühlvolles Betätigen der Klaviertasten von Huber. Das beginnt noch streng voneinander getrennt: Die erste Nummer ist Eckman solo an der Akustischen, die zweite Huber am Klavier mit einer emotionalen Hymne an die Nacht, und das barfuss. Dann wird gemeinsam das Album auf die Bühne gebracht, Eckman übt sich in epischen Gitarrensoli, lässt sie weinen, das gute Stück. Songs wie "Dust" und "Land of the Lost" funktionieren wunderbar, es bleibt aber ein Work in Progress, dieses Album braucht Ruhe zum Wachsen - selbst ein Konzert ist für die Umsetzung zu kurz.

L/O/N/G

Hanna Pribitzer

Nach so einem Abend holt einen die Realität ein, vor allem die Schlagzeilen. Aber wenn es ganz schlimm wird, denkt man zurück: An Menschen, die sich auf beim Blue Bird auf völlig unterschiedliche Künstler einlassen, dabei mit dem Fuß wippen oder die Augen schließen, wenn einzig und allein eine Klaviermelodie die Schwere des Raums trägt. Bezaubernde Menschen. Und wehe, man stört sie beim Träumen.