Erstellt am: 2. 12. 2011 - 10:56 Uhr
Tagebuch zum Jahr des Verzichts (35)
marc carnal
2011 wird Tagebuch geführt und verzichtet: Monatlich auf ein bestimmtes Sucht- und Genussmittel, auf Medien oder alltägliche Bequemlichkeiten. Jeder Verzicht ist klar eingegrenzt. Es gelten freiwillige Selbstkontrolle und dezenter Gruppendruck unter den Mitstreitern.
Sonntag, 20. November
Deutscher Lebertag
■ „Das Jüngste Gericht“ scheint wie geschaffen zu sein, um mindestens drei Wortwitze von Welt zu erdenken. Mir will aber partout keiner einfallen.
■ „Nein, ich esse nur diesen Monat kein Fleisch. Ich bestreite nämlich das Jahr des Verzichts, in dem ein paar Freunde und ich jeden Monat auf etwas vorher Festgelegtes verzichten.“
“Aha, lustig. Und was habt ihr sonst schon alles gehabt?“
“Also, im Jänner war Alkohol, im Februar…“
“Und was war am schwierigsten?“
"..."
Dieses Gespräch habe ich mittlerweile zu oft geführt. Jetzt sage ich meistens nur noch „Ich hab gerade keine Lust auf X“ oder „Ja, ich bin…“
Nach einem knappen Jahr komme ich mir langsam wie ein Dauer-Interviewter vor, gefühlte tausendmal hab ich den Rotz schon erklärt.
Montag, 21. November
Welttag des Fernsehens
marc carnal
■ Neue Taktik:
“Billa Vorteils-Karte?“
“Ja.“
Und dann nicht herzeigen.
Damit rechnen die nicht!
■ Exklusiv aus der Club 2 - Redaktionssitzung:
"Laden wir nächste Woche Matthias Horx ein?"
"Also ich wäre eher für Konrad Paul Liessmann."
"Aber Konrad Paul Liessmann war doch schon letzte Woche!"
"Na und, Matthias Horx war vor drei Wochen."
"Ich hab's! Wir laden einfach Matthias Horx UND Konrad Paul Liessmann ein!"
■ Größte Prüfung bisher: Drapiere liebevoll Schinken- und Salamibrote, ohne mir ein Scheibchen in meinen Schlund zu schieben und muss dann anderen auch noch beim genussvollen Verzehr zusehen.
Dienstag, 22. November
■ Gouda: Dass dieses nicht besonders elektrisierende Käse-Substitut in unseren Breiten so beliebt ist, liegt sicher nicht vorrangig daran, dass es fast gratis ist. Der Mitteleuropäer spachtelt den öden Gouda einfach kiloweise, weil das auch zu ihm passt. Ein Käse, genauso bleich, teigig, hässlich und fantasielos wie die ihn verzehrende Bevölkerung. Ohne empirischen Argumentations-Support kann man die Vorstellung ruhigen Gewissens absurd nennen, dass Italiener, Spanier oder Franzosen sich an Gouda laben könnten, wenn es doch tausende heißblütigere Käsesorten gibt.
Heute
Mittwoch, 23. November
■ Bei einer zufälligen Begegnung mit Hermann Maier einen Euro auf die Straße werfen und wetten, ob er tatsächlich nachläuft – Das wäre prächtig!
■ In jeder IKEA-Anleitung sieht man auf der ersten Seite einen ratlosen Herrn, der zum Telefon greift und sodann erleuchtet ist. Ein wirklich verboten filigraner und mit fast vierzig Arbeitsschritten vergleichsweise aufwendiger Badezimmerschrank lässt mich auf halber Strecke mit dem ratlosen Comic-Mann mitfühlen. Doch wo genau ruft der eigentlich an? Eine klassische Bau-Hilfe-Hotline scheint es nicht zu geben. Unter der allgemeinen Nummer muss man seine Postleitzahl eingeben und wird dann in das nächste Einrichtungshaus verbunden. Der freundlichen Telefonstimme schildere ich mein Problem und bekomme nach fünfminütigem hörbarem Blättern und unhörbarem, aber offensichtlichem Grübeln die sensationelle, weil unbegründete Auskunft, dass ich diesen Arbeitsschritt ruhig auslassen könne.
■ Kollege Wurm überbrückt die einmonatige Fleisch-Abstinenz mit vegetarischem Leberkäse und Schnitzel und ist durchaus begeistert.
Donnerstag, 24. November
■ Hübsche Zukunftsvorstellung: Sex kommt irgendwann gänzlich aus der Mode und wird nur noch zähneknirschend und mit der gebotenen Sachlichkeit bei Fortpflanzungswillen praktiziert.
■ Ich beginne langsam, mehr zu kochen und einzufrieren, nachdem im Dezember auf Fast Food im weitesten Sinn verzichtet wird.
■ Zwei Kebabverzehrende setzen sich in der Straßenbahn zu mir und parlieren folgendermaßen:
"Das ist so arg, immer wenn du keine Freundin hast, willst du eine haben, und wenn du dann eine Beziehung hast, geht dir das ur schnell auf den Sack. Mir geht das nach einer Woche schon ur auf die Nerven, weil sie will dich dann ständig sehen und bei dir schlafen und immer was machen und so."
"Ja, ich war auch zwei Wochen mit der Jenny zusammen, und sie wollte die ur ernsthafte Beziehung, aber mir geht das auch so schnell am Arsch."
Wichtige Bonus-Info: Die Gesprächspartner waren Knaben mit Engelsstimmen, schätzungsweise zehn, allerhöchstens und eine etwas zähe körperliche Entwicklung vorausgesetzt zwölf.
Freitag, 25. November
■ Je höher der Eintritt, desto besser amüsiert sich das Publikum. Kostenlose Veranstaltungen oder sehr günstige Eintrittspreise sind der Aufmerksamkeit nicht zuträglich. Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand in Reihe siebenhundert des Berliner Olympiastadions auch nur einen Mario Barth - Jokus wirklich zum Kugeln findet, aber für fünfzig Eulen muss man fast vor Vergnügen brüllen. Ein Madonna-Konzert ist zweihundert Meter vor der Bühne sicher auch nur peripher elektrisierend, aber für einen Hunderter lässt sich das hirninterne Unterhaltungszentrum sicher auch unbewusst-erzwungenermaßen aktivieren. Vielleicht labte man sich auch an raschelnden und knusprigen Snacks und plauderte ungeniert bei den Salzburger Festspielen, wenn man nicht einen halben Durchschnittslohn für drei Stunden Oper hinblättern müsste.
■ Eier, Butter, Bier – Texte zu Einkaufslisten unbekannter Provenienz
marc carnal
VERSUCH ÜBER DIE SCHWEIZ
Die Schweiz ist ein winziges Land in Mitteleuropa, dessen Form an einen Käfer erinnert, dem man fünf von sechs Beinen ausgerissen hat. Es besteht aus unzähligen sogenannten Kantonen, die Namen wie Uri, Appenzell Ausserrhoden oder Jura tragen. Die Vizepräsidentin heißt Eveline Widmer-Schlumpf.
Die Einwohner der Schweiz lieben ihr Land und sind ausgesprochen stolz darauf. Zu Recht, denn in der Schweiz ist es wunderschön. Es gibt dort viele Berge mit Namen wie Finsteraarhorn, Brünnelistock, Napf, Hochhus, Hundwiler Höhi, Wildstrubel, Alphubel, Jungfrau, Namenlos, Ofen, Schlüchtli oder Chöpfenberg und natürlich auch malerische Seen.
Zwei Drittel der Schweizer sind in der Taschenmesser-, Uhren-, Käse oder Süßwarenindustrie tätig und verdienen sich dumm und blöd, der Rest ist arbeitslos und füllt die viele freie Zeit mit dem liebsten und einzigen Steckenpferd des Schweizers, dem Sammeln von Kaffee-Rahm-Deckeli. Das teuerste Kaffee-Rahm-Deckeli ist die sehr seltene blaue Maresi.
Neben Italienisch, Französisch und Rätoromanisch spricht man das so genannte Schwizerdütsch, eine Sprache, die zu Recht noch in nie einer der oft publizierten „Erotischsten Sprachen“ vertreten war, weshalb Schweizer bei vielen Partneragenturen als unvermittelbar wieder abgewiesen werden. Außerdem gelten sie nicht ohne Grund als stinklangweilig und bestechen durch ihre grenzenlose Langsamkeit.
Es gibt nur drei berühmte Schweizer, von denen wiederum zwei ein Ehepaar bilden: DJ Bobo und Kurt und Paola Felix („Und hier kommt unser Lockvogel“).
Mehr gibt es über die Schweiz beim besten Willen nicht zu sagen.
Samstag, 26. November
■ Fesselndes Ö1-Hörbild, welches die Geschichte eines Tiroler Autors aufrollt, der (unter Pseudonym) einen Roman über einen Amoklauf veröffentlichte und diesen spontan seiner ehemaligen Lehrerin schickte. Ungeschickterweise ohne Absender oder begleitende Zeilen. Obendrein beschreibt das Buch einen Täter, der zwanzig Jahre nach seiner Schullaufbahn Ex-Mitschüler und -Lehrer erschießt.
Die Adressatin fühlt sich slightly uneasy – kurz darauf durchsucht man sein Haus, erstellt ein psychologisches Gutachten und befragt Freunde und Verwandte. Es kommt zur Gerichtsverhandlung, weil das postalische Geschenk nach wie vor als Drohung oder gar Ankündigung einer Tat missverstanden wird. Der Fall wird ob der zunehmenden Vermischung bzw. Verwechslung von Autor und Romanfigur immer grotesker.
Die bezauberndste Passage der ganzen Radiostunde ist aber die Formulierung „Er trägt ein minimalistisches Hawaiihemd.“ Ein vortreffliches Beispiel für ein Oxymoron.
■ Der nächtliche Überschwang führt mich am Heimweg zu McDonald’s, wo ich mich an den Veggie Burger wage.
Schmeckt wie der verjährtem Fett gebratene, pürierte Inhalt einer Biomüll-Tonne, flankiert von einem Brot-Missverständnis.