Erstellt am: 23. 11. 2011 - 19:15 Uhr
Die Wirklichkeit, ein Märchen
"Als Kind hatte ich kein Ziel", schreibt Georg Kreisler in seiner Autobiografie Letzte Lieder. 1922 als einziges Kind des Rechtsanwalts Dr. Siegfried Kreisler und dessen Frau Hilda Kreisler in Wien geboren lernt er Klavier, Geige und Musiktheorie. Als 16-jähriger flieht er mit seiner Familie vor den Nazis nach Los Angeles.
Arnold Schönberg versucht hier vergeblich Kreisler als seinen Schüler an die Universität zu bekommen. 1943 wird Kreisler US-Staatsbürger und zur US-Army eingezogen. Im Krieg wird er ob seiner musikalischen Fähigkeiten sowohl in der Soldatenunterhaltung eingesetzt als auch wegen seiner Deutschkenntnisse bei der military intelligence, wo er Handschriften potentieller Spione analysiert und bei Verhören übersetzt.
"Wer ein Ziel hat, ist auf dem falschen Weg."
Die Katastrophe des 20. Jahrhunderts und die große Frage des "Wie Weiterleben?" grundieren von nun an Kreislers Schaffen. Bitter und milde zugleich fasst er später zusammen: "Die Optimisten endeten in Auschwitz, die Pessimisten in Beverly Hills."
Nach dem Krieg arbeitet Kreisler in Hollywood unter anderem mit Charlie Chaplin zusammen. "Chaplin konnte keine Noten lesen. Also pfiff er Melodien, ich schrieb die Noten auf und brachte sie zu Hanns Eisler, der in Malibu wohnte und aus meinen Noten die Musik arrangierte. Chaplin war sehr liebenswürdig und ungeheuer sozial eingestellt. Ich kann nur Gutes über ihn sagen. Eisler war eher kühl. Er nahm nur schnell die Noten in Empfang und schloss die Tür."
Von Hollywood geht Kreisler nach New York. Der Antisemitismus und der ausbrechende McCarthyismus machen es dem Musical-Autor, der sich bisweilen als Pianobar-Entertainer durchschlägt, schwer heimisch zu werden. Seine satirischen Stücke gelten als "unamerikanisch", Erfahrungen mit Zensur lassen Kreisler seine Zelte erneut aufbrechen.
"Ich verließ also Amerika im Februar 1955 auf einem norwegischen Frachter und landete drei Wochen später in Europa. Meine Erwartungen waren nüchtern." In Wien singt Kreisler deutschsprachige Chansons und begründet mit Hans Weigel, Gerhard Bronner, Peter Wehle und Helmut Qualtinger das Nachkriegskabarett. Als Anarchist und Jude parodiert Kreisler den Wiener "Hamur", die "Gemütlichkeit" und reibt sich an der NS-Verdrängungskultur des Kalten Krieges. Nach kurzen Erfolgen flüchtet Kreisler von Wien nach München. Gemeinsam mit Topsy Küppers singt er Chansons, die im Vergleich zu den späteren Liedern voll harmloser Ironie sind. "Ich floh nach München und kehrte drei Jahre später zurück, denn in Wien fühlte ich mich sicherer vor den Wienern als in München."
"Jeder Mensch ist ein Flüchtling. Wer zu Hause bleibt, flüchtet vor der Realität."
Kreisler bearbeitet Nestroy für die Salzburger Festspiele und er schreibt Stücke, die nicht aufgeführt werden. So bestellen die Kammerspiele Zürich bei ihm eine Parodie eines laufenden Stückes. Kreisler wählt Max Frischs Andorra aus, das er latent antisemitisch findet, und schreibt die Parodie Sodom und Andorra, die von den Kammerspielen abgelehnt werden. Mit seiner kompromisslosen Haltung werden solche Erfahrungen für Kreisler zum Berufsrisiko. Bestellte Zeitungskommentare, Stücke, Fernsehsendungen werden ihm zurückgeschickt. Kreislers radikal-pointierte Zeitkritik lotet stets die Freiheit der Kunst aus.
Vorbild einer Generation
"Ehrgeiz, Karriere, Geld, Konkurrenzkampf, das sind alles Märchen, die Wirklichkeit liegt woanders." Die scharfzüngige Sprachkunst und die befreiende Demaskierung gesellschaftlich konventionalisierter Stupidität und Brutalität haben Georg Kreisler zur Ikone des bitterbös-schwarzen Humors und zum Vorbild ganzer Kabarettistengenerationen gemacht. Die Ablehnung, mit der ihn Zeit seines Lebens der offiziöse Kulturbetrieb behandelt hat - und die er im späten Alter selbst umkehrte, indem er sich offiziöse Anerkennung verbat - wird sich nun, da er im Alter von 89 Jahren fortgegangen ist, wohl umso tiefer umkehren.
Seine Art über die Welt und die Zeit zu singen wird uns weiter beschäftigen. "Ich werde in einen Kreislauf der Natur übergehen. Und irgendwie wieder auf die Welt kommen. Das Materielle geht nicht verloren."