Erstellt am: 23. 11. 2011 - 22:49 Uhr
Journal 2011. Eintrag 211.
2011 ist Journal-Jahr - wie schon 2003, 2005, 2007 und 2009. Das heißt: Ein täglicher Eintrag, der als Anregungs- und Denkfutter dienen soll, Fußball-Journal '11 inklusive.
Hier finden sich täglich Geschichten und/oder Analysen, die ich als passionierter Medien-Konsument selber gern gelesen/-sehen/-hört hätte, aber nirgendwo (oder nur unzureichend) finden konnte; und deshalb selber ausforschen und durchdenken muss.
Heute über einen mächtigen Satz von Bushido.
Dieser Text ist überzogene Realsatire, ja. Wer ihn bewusst missversteht, hat mein Beileid.
Es ist schon ein geschichtlicher Treppenwitz.
Zu dem Zeitpunkt, als Pop/Rock/elektronische Musik seriöses Weltaussage-Potential hatten, war das Interesse der Mainstream-Medien sich damit zu beschäftigen bei Null.
Jetzt, wo Populärmusik fast nur noch ornamentsiche Bedeutung hat, lassen sich selbst die seriösen Zeit-im-Bilds mit jedem ankommenden Fuzzi ein. Fast schon panisch.
Scheiße-Timing eben, historisch gesehen.
Wiewohl das natürlich eh nur den klassischen Mainstream-Medien-Mechanismus (immer nur gefahrlos das längst Aggregierte, Approbierte und somit Ausgelutschte zulassen) bedient.
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So kommen Sido und Bushido dieser Tage also nicht nur in halbstarken Society-Magazinen dazu, ihre öde PR-Plattitüden abzusondern, sondern auch in den Nachrichtensendungen.
Das hat auch damit zu tun, dass beide letztens zu Recht Schlagzeilen-Themen waren.
Sido gelang Unerhörtes: Er setzte sich öffentlich gegen die Allmacht der Kronen-Zeitung zur Wehr - etwas, was sich die Mächtigen des Landes nie trauen würden. Seitdem ist er im Land der Herumdruckser ein Gott. Dass er sich in Österreich so wohl fühlt, hängt auch damit zusammen, dass ihm hier eine Art Novelty-Interesse entgegenschlägt; in Deutschland oder gar Berlin juckt er keinen mehr.
Der andere, Bushido bekam einen glänzenden Medien-Preis vom selben Verlag, der letztens einen rabiaten religiösen Fundamentalisten mit einer Courage-Statue ausgezeichnet hat.
Mag es damals um Big Business gegangen sein - diesmal geht es um eine Geste. Den Preis für Integration erhielt Bushido, weil er sich so brav in die Business-Welt integriert hat; weil er sein neues Geld brav in alte Machtkreisläufe steckt.
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Sido wie Bushido haben ihr Core-Publikum (das der Wannabe-Gangster zwischen 11 und 14 und der erwachsenen Biedermänner, die daheim ihre Frauen schlagen) zwar mit ein paar Einzelhits verlassen können - die vielen Fans, die HipHop als Heimat und Narrativ begreifen, sind inzwischen längst weitergezogen und lassen sie in einem Mainstream-Pop-Bereich zurück, wo sie nur angstvoll aneinandergeschmiegt, als Casting-Juror im Ausland und mit Stimm-Hilfe von Peter Maffay überleben können. Schnell noch einmal die Normalbürger mit ein bisschen Gangsta-Getue thrillen, ehe es dann ins Ausgedinge geht.
Und genau die erreicht man mit diesen schnarchigen Schniegel-Interviews, über deren Biederkeit sich dann sogar Dominik Heinzl lustig macht.
Und weil sich im Konkreten etwa Bushido hier besonders spießig erklären will, unter Verzicht auf aufgesetzte "ich sag was mir passt"-Sprache, den Reflexiven raushängen lassend, kommt es dann zu solchen Sätzen, zu solch großen Momenten.
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Bushido sagt da wörtlich:
"Wenn ich in nem Song halt irgendwie 'schwul' als Schimpfwort benutze, ja, und dann kann ich mich nicht beklagen, wenn dann plötzlich der Schwulen- und Lesben-Verband halt sagt, ej der is halt irgendwie gegen Schwule.
Wenn ich aber erkläre, dass es überhaupt nix mit der Homosexualität zu tun hat, sondern dass es halt einfach LEIDER auch natürlich auch ein Sprachgebrauch ist, der in unserem Genre sich halt einfach so entwickelt hat."
Das "LEIDER" betont der Mann so punktgenau uninterpretierbar zwischen Ironie und Bedauern, als hätte er das bei Jörg Haider gelernt, dem Meister darin bei Begriffen mehr als nur eine Bedeutung mitschwingen zu lassen.
Der umrahmende Kontext aus Wort und Bild sagt dann noch so was wie 'Politisch-korrekter Maulkorb, das ist doch übertrieben' - und mir fällt es wie Schuppen vor den Augen.
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Endlich kapier ich's.
Wenn etwas genre-immanent und dort mehrheitsfähig ist - dann muss ich es übernehmen und weiterziehen.
Es geht nicht anders.
Ich bin Opfer, quasi Opfer der Demokratie. In meinem Bereich.
Bushido ist Opfer der Bestimmungen seines Genres.
Wenn dort "Schwul" als Begriff für so Scheiße-Dinge gilt, dann muss ich das verwenden, sonst breche ich ein Gesetz.
Und das geht nicht; im Gangsta-Hiphop Gesetze brechen, geht echt nicht, nie; wo kämen wir hin. Ehrenkodex, komplizierter Handschlag, tiefes-einander-ins-Auge-blicken.
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Jetzt wo ich's verstehe muss ich‘s umsetzen.
Weiterdenken.
Zum Beispiel in dieses andere Genre, von dem jetzt so viel die Rede war, in Bushidos Heimat; auch im Zusammenhang mit dem wofür er die Bambi-Preis bekommen, der ihn so übermannt hatte, dass er gleich sein Instrument, die Sprache irgendwie verloren hat - das mit der Integration; oder besser: dem Gegenteil.
Die NSU meine ich.
Die Figuren im nationalsozialistischen Untergrund, die Neonazis, die seit Jahren ziemlich unbehelligt (angesichts einer auf dem rechtsextremen Auge blinden Behördenstruktur nicht weiter verwunderlich) ihre Mordreihen durchgezogen haben.
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Wenn die jetzt, nur als Beispiel, Kanake sagen, dann meinen sie nicht echte Kanaken, weil das wären Polynesier. Die meinen das als Sammelbegriff für alles, ja, letztlich das, was die deutschen Gangsta-HipHop-Brüder der alten Aggro-Schule "schwul" nennen würden.
Also alles was die Schieße finden; Ausländer eben in erster Linie, die das Blut verunreinigen.
Also nicht alle Ausländer, eher die ausm Süden, die so aussehen wie ... wie Bushido zum Beispiel, der ja tunesische Wurzeln hat.
Aber wenn jetzt, angenommen nur, so ein NSUler zu Bushido Kanake sagt, dann ist das so wie wenn Bushido zu jemandem Schwuler sagt.
Er kann nicht anders.
Das Genre, die Szene in der er sich bewegt zwingt ihn quasi dazu. Das sind dort festgeschriebene Regeln.
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Ich meine Bushido hätte jede Menge Grund, sich über den Ausländer und Zweite-Generations-Verband zu beschweren; und die NSU-Nazis würden es dann auch verstehen, aber es wäre eben einfach LEIDER der Sprachgebrauch, der sich halt einfach so entwickelt hat.
Was willste machen.
Bushido würde gar nichts machen.
Weil er's ja versteht.
Würde sich Kanake schimpfen lassen, achselzuckend umdrehen und weitergehen.
Er kann ja nicht verlangen, dass ein Genre, eine Szene, eine Gesellschaft ein Gesetz bricht; ihr Gesetz bricht. Das geht nicht; wo kämen wir hin. Ehrenkodex und das alles.
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Außerdem ist Bushido ja voll weiß. Sagt er von sich; und überlegen rassisch ist er womöglich auch.
Wenn jetzt die NSU-Neonazis drüber lachen, dass sich ein gemeinhin als südländischer Typ benannter Kerl wie Bushido als weiß bezeichnet und ihn dafür dann "schwul" nennen ... ja, da steige ich jetzt aus, da ist mir nicht mehr klar, was jetzt richtig ist und was nicht. Ich warte auf das nächste Bushido-Interview zur Klärung.
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Aber ich verstehe jetzt plötzlich wie gemein es damals von mir war das Gespräch mit Ferris MC live on air zu beenden, als zu seinem Titel "Alle MCs sind schwul in Deutschland" einfach keine Erklärung kommen wollte.
Ich verstehe plötzlich die RoyalBunker-Posse und ihr fast gekränktes Beharren auf die Freiheit schwulen-, frauenfeindlich und gewaltverherrlichend sein zu dürfen (auch wenn sie das mittlerweile anders sehen).
Ich verstehe, dass ich diesem Genre und seinem engsten Verwandten, der homophoben Ragga-Szene in Österreich, massiv Unrecht getan habe.
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Sie sind Opfer, allesamt.
Opfer von Gesetzen und Regeln der Gruppen der sie angehören.
Sie können sich LEIDER nicht dagegen wehren, dass sie Begriffe, die dort verwendet werden, selber gebrauchen.
Weil es doch dazugehört, identitätsbildend quasi.
Was würden denn die Neonazis ohne das Feindbild des Ausländers, den Kanaken, den sie jagen und prügeln und töten, dessen Haus zu anzünden, denn machen? Die könnten sich ja glatt auflösen ohne das!
Dasselbe ist es wohl mit Bushido und seinem Genre, der Integration. Nein, das ist der Preis, sorry, ich komm' ganz durcheinander. Sein Genre, das ist die ganz schmale Blase an Gangsta-Rappern. Und was würden die machen, wenn sie nicht "Schwul!" als hauptsächliches Diss-Word vor sich hertragen würden? Auflösen könnten die sich, das muss doch einmal gesagt werden!
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Wann, frag ich mich, hat es denn das in Deutschland oder Österreich überhaupt jemals schon gegeben, dass sich ein Angehöriger der Gemeinschaft denn gegen eine Regel oder ein Gesetz aufgelehnt hat.
Die muss man befolgen, manchmal auch LEIDER.
Es hat sicher praktisch allen der 99%, die anno '38 für die Nazis waren, echt leidgetan, dass Juden, Schwule, Kanaken, politische Gegner, Behinderte und eine Menge anderer Menschen enteignet, gedemütigt, gefoltert und ermordet wurden, LEIDER.
Aber es war Regel, was willste machen. Hat sich eben so entwickelt. Da muss man durch.