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Maria Motter Graz

Bücher, Bilder, Kritzeleien. Und die Menschen dazu.

24. 11. 2011 - 14:08

Privatsphäre? Weg damit!

Intelligenter und solidarischer wird die Welt. Vorausgesetzt, alles läuft nach Christian Hellers Vorstellung von einer Zukunft ohne die vermeintliche Sicherheit Privatsphäre.

Ohne Privatsphäre lebt es sich hervorragend. Das behauptet Christian Heller. Und dokumentiert sein Leben fröhlich wie nebenbei im Internet. Ehe ich den 26jährigen Deutschen fragen kann, ob er denn auch wildfremde Menschen in seine Wohnung einlädt, schlägt Christian Heller mir vor, das Interview doch in seiner Wohnung zu führen. Weil ein Café ohne Hintergrundlärm fällt ihm gerade nicht ein.

Christian Heller ist kein begeisterter Selbstdarsteller. Er hat ein Anliegen: Ein mögliches Ende der Privatsphäre als Chance zu begreifen, eine offenere Welt zu gestalten. Dort, wo die Macht ist, soll mehr Transparenz wirken.
Der Weg dorthin: Post Privacy!

Post Privacy ist ein Zustand, in dem informationelle Privatsphäre – also das, was die Welt von mir wissen kann und gerade nicht wissen kann – mehr und mehr wegbröckelt. "Du musst dich zunehmend darauf einstellen, dass die Welt alles von dir wissen kann, was sie will", so Heller, "und dass jeder in deine Sachen hineinschnüffeln kann.“

Und warum soll ich mich darauf freuen? Was wäre der größte Anreiz? Christian Heller verspricht sich von Post Privacy eine größere gesamt-gesellschaftliche Intelligenz und ein anderes Bild davon, wie die Welt funktioniert und wie der Mensch tickt. "Dass wir uns vielleicht etwas weniger als isolierte Individuen betrachten, sondern sehr viel mehr sehen, wo unsere Interessen liegen oder unsere Einflussfaktoren mit denen anderer übereinstimmen", sagt Christian Heller im Gespräch. "Das wir sehr viel leichter Menschen finden, mit denen wir uns zusammenschließen können." Schließlich wäre es eine Welt post privacy, die im Großen und Ganzen solidarischer und intelligenter funktioniert. Nicht zuletzt sei ein Blick von außen auf einen ein erweiterter Blick.

Christian Heller sitzt in seiner Wohnung

Radio FM4

Verdatung

Christian Heller ist nicht allein: Die "Post Privacy Spackeria" macht sich auch datenschutzkritische Gedanken.

Zentral ist die "Verdatung" in Hellers Konzept. Der Blogger, der als plomlompom soziale Plattformen intensiv nützt, liebt Daten. In seinen Ausführungen im Buch "Post Privacy" personifiziert er sie gerne. Daten lassen alles mit sich machen, und sie sind geduldig. Christian Heller nennt einen Vorteil nach dem anderen, den die persönliche Verdatung bringt: Sie wäre eine Erweiterung des Gedächtnisses und kann das Bild und Bewusstsein vom Selbst, die Wahrnehmung und das Nachdenken über die eigene Lebensweise verändern.

Das klingt verlockend und großartig. Heller ist ein unterhaltsamer Erzähler, er hat für seine Thesen die historische Entwicklung des Privaten studiert und erklärt nebenbei das Netz, so dass es auch meine Mama endlich verstehen würde. Das Goldene Zeitalter der Privatsphäre des Bürgertums war nicht für alle ein glückliches. Bürgerliche Ehefrauen etwa sehnten sich nach der Öffentlichkeit außerhalb des trauten Heims. Im 20. Jahrhundert demokratisierte sich die Privatsphäre, wurde zum Wert und stand und steht für Freiheit.

Freiheit, die man sich schenken kann

Martin Blumenau über Privatsphäre in Social Networks.

Diese Freiheit Privatheit könne man sich schenken. "Wir sind so oder so mit dem Rest der Welt verkabelt und abhängig. Und Privatsphäre ist nur etwas, was die Illusion gibt, dass man dann im privaten Raum irgendwie freier wäre. Faktisch sind wir abhängig davon, wie unsere Umstände gestaltet sind. Der Staat macht Gesetze zu unserem Schutz oder die Sitten, Anstand und Moral setzen fest, was man fragt oder nicht. Und danach entscheidet sich dieser 'Freiheitsraum'. Da kann einem das Hinaustreten in das Offene sehr viel mehr Gestaltungsraum geben."

Den Schutz der Privatsphäre und Datenschutz lassen wir alle ohnehin schon sehr bald hinter uns - ob unfreiwillig oder freiwillig. Christian Heller ist sich sicher. Prophezeiung will er keine abgeben, doch eine Schätzung: 2030 könnte sich Post Privacy bereits sehr weiträumig als Zustand einstellen.

Die Kämpfe um Datenschutz erachtet Heller als „Rückzugsgefechte“. „Es wird keinen Bereich mehr geben, in dem wir uns vor fremden Blicken sicher glauben können.“ Aber das sei gut so: Alles für alle öffentlich einsehbar zu machen, das erachtet Heller als Fortschritt. Seine Überlegungen zu Post Privacy reiht er an die großen Emanzipationsbewegungen, an die Frauenbewegung und die Schwulenbewegung. Und alles noch so Private muss hinaus, in das Internet.

Am Liebsten speist Christian Heller seinen Tagesablauf in sein selbstprogrammiertes Wiki. Um später Schlüsse zu ziehen, über Schlafgewohnheiten zum Beispiel. Geschadet hat ihm diese Freizügigkeit noch nicht. Abgesehen von einigen Störanrufen. Denn seine Telefonnummer findet man mit einem Klick auf seinem Blog. Doch dass die Telefonnummer im Impressum steht, dafür ist deutsches Recht verantwortlich.

Alle Daten für alle!

Schlichtes Buchcover mit Abbildung eines iPhones

Verlag C.H.Beck

"Transparenz kann reinen Text - Theorien und Codes - verbessern helfen. Aber auch soziale Körper finden Stärke durch Transparenz." Hellers Buch ist kürzlich bei C.H.Beck erschienen.

Und wie sieht die ideale Post Privacy-Welt aus? "Naja, ich denke, Post Privacy an sich löst jetzt noch nicht alle Probleme. Insofern kann ich nicht sagen, das wäre jetzt das Paradies, wenn wir Post Privacy hätten. Doch eine ideale Welt post privacy ist beispielsweise sehr viel fähiger, Andersheit zu respektieren und zu tolerieren. Und gleichzeitig auch eine Welt, in der die Zunahme an Transparenz allen zur Verfügung stünde. Das hieße, dass nicht nur der Überwachungsstaat mehr von uns weiß oder Facebook alles von uns weiß – sondern dass wir auch von denen alles wissen. Und auf diese Weise wird eine Art demokratischer Kontrolle bestimmter Machtanhäufungen begünstigt", sagt Christian Heller.

Dem Blogger und Autor geht es aber nicht so sehr darum, dass alle mehr Wissen und mehr Wahrheit gewinnen. Kommunikation ist für Christian Heller zentral. Durch viel intensivere Kommunikation aller könnte jede und jeder in Folge zum Beispiel sehr viel besser abschätzen, wo man einander nützt und wo schadet.

Durch Post Privacy könnte die Gesellschaft solidarischer werden. Diesen Grundgedanken trägt Heller in seinen Thesen voran, und das macht seinen provokativen Ansatz spannend. Es geht um ein gesellschaftliches Fortkommen.

"Wenn wir eine Art gesellschaftlicher Solidarität aufrechterhalten wollen, müssen wir Vorarbeit leisten auf eine Post Privacy Welt. Und uns darauf einstellen, dass jeder alles von jedem wissen kann", sagt Heller und wird konkret: "Indem wir beispielsweise uns überlegen, wie ein Krankenversicherungssystem aussehen könnte, dass die Menschen nicht bestraft, dass sie ehrlich sind, welche Krankheiten sie haben. Oder wie wir bestimmte Formen des Drucks abbauen wie: 'Du musst dich vor deinem Arbeitgeber fürchten, weil er dich sonst nicht anstellen kann.'" Utopien - ja! In vollem Bewusstsein.