Erstellt am: 25. 11. 2011 - 10:47 Uhr
Komm, süßer Kitsch!
"Über Geschmäcker lässt sich nicht streiten" ist wohl einer der ödesten Sätze, die mir immer wieder unterkommen. Das Gegenteil ist der Fall. Nicht nur kann man beispielsweise über die Definition von Kitsch stundenlang spannend diskutieren. Anhand dieses Begriffs lassen sich ganze Weltbilder und Denksysteme durchdeklinieren.
Dementsprechende Auseinandersetzungen toben ja auch bereits seit die wunderbare Autorin Susan Sontag 1962 ihren legendären Essay "Notes on Camp" publizierte. In dem Text bringt die New Yorkerin für damalige Verhältnisse das Phänomen, sich zu den scheinbar größten Banalitäten auf magische Weise hingezogen zu fühlen, auf den Punkt.
constantin film
Inzwischen hat sich aber so unglaublich viel verändert, dass viele Schlüsselsätze von Sontag obsolet wirken. Vor allem vom genüsslich kichernd formulierten Dogma vieler zynischer Ironiker und Peinlichkeits-Anbeter, dem berüchtigten "Das ist so schlecht, dass es wieder gut ist" muss man sich im Reality-Fegefeuer der Alkopop-Dokusoaps und Castingshow-Debilitäten verabschieden.
Schlecht und dumpf und hirnzersetzend bleibt schlecht und dumpf und hirnzersetzend, könnte man im postmodernden Minenfeld der tausend Brechungen und verschobenen Bedeutungen als neuen Leitsatz ausgeben. Aber so einfach ist es auch wieder nicht. Vielleicht funktioniert die Annäherung an das, was viele als Kitsch und Geschmacksdebakel brandmarken, heute im besten Fall extrem differenziert, auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig.
Ich rede von einer produktiven Differenz aus Herz und Hirn, wo man sich einerseits dem Gefühlsüberschwang und den niedrigen Instinkten völlig hingibt. Und andererseits der Verstand angeregt weiterarbeitet und die unangestrengte Analyse zum puren Vergnügen wird. Bestes aktuelles Exempel diesbezüglich: "Breaking Dawn", der vierte und vorletzte Teil der "Twilight"-Saga.
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In dem Film ist es nun endlich soweit. Die Nacht der Nächte steht bevor, auf die Millionen "Twilight"-Fans in aller Welt entnervt gewartet haben. Auch Bella Swan schlottern die Knie vor Aufregung. Seit 2008 zittert das blasse Highschool-Girl dem ultimativen, alles erlösenden Beischlaf mit ihrem Vampirlover Edward entgegen. Der höfliche Designer-Untote hatte sich bislang bekanntlich verweigert, weil Sex mit seiner Spezies gewöhnlichen Sterblichen das Leben kostet.
Im Vorgängerstreifen "Eclipse - Bis" nötigte die schmachtende Jungfrau ihren Blutsauger-Buben, aber dennoch mehr als vorsichtiges Petting zu versuchen, natürlich nur nach der gesetzlichen Eheschließung, wie es sich im Werk der wertkonservativen Stephenie Meyer gehört.
Nach einer Traumhochzeit wie aus dem Jungmädchen-Bilderbuch (aber ohne die Erwähnung des Wortes "Gott", wenigstens in einem Punkt kann man den Light-Vampiren der Gegenwart vertrauen) gibt es nun kein Zurück mehr. Das längste Vorspiel der Filmgeschichte findet ein Ende.
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Nur soviel: Ihr Burschen da draußen müsst euch ab jetzt beim ersten Mal mit euer Liebsten ganz schön anstrengen. Denn der hübsche Edward wirkt mit seiner Mischung aus kuscheliger Sensiblität und animalischer Stärke wie ein Posterboy aktueller Männlichkeitsideale. Da wird dann, bei aller Zärtlichkeit, schon mal das Schlafzimmer ein bisserl zerlegt.
Abgesehen von ein paar eher hässlichen Druckstellen ist der Sex fantastisch, das Begehren immens, die Urlaubssonne im fernen Brasilien scheint gleißend auf das junge Paar. Ein "Twilight"-Vampir zerfällt dabei ja nicht zu Staub, sondern läuft lässig in Shorts herum und spielt mit seiner Angetrauten kultiviert Schach am Strand (was als Erziehungswink an die Smartphone-Generation zu köstlich scheint, um wahr zu sein).
Anyway, richtig glücklich darf es im Universum von Frau Meyer nicht zugehen, auf Lust und Liebe wartet selbstverständlich gleich die Bestrafung. Bella wird augenblicklich schwanger, das möglicherweise etwas übernatürlich angehauchte Baby lässt die tolle Kristen Stewart zum Skelett abmagern. Edward geißelt sich selbst (das glaubt man dem gequält durch Hollywood spazierenden Robert Pattinson sofort), draußen im Wald warten die Wölfe, der schwer gekränkte Jacob heult mit ihnen. Und diesmal kauft man sogar dem Antityp Taylor Lautner seine Gefühle ab.
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Ideologisch ist das alles natürlich ein Desaster. Sex vor der Ehe ist böse, Sex nach der Ehe ist böse, schwangere Frauen müssen sich für ihre Kinder opfern, von der Heiligsprechung amerikanischer Upperclass-Haushalte via Cullen-Family gar nicht zu reden.
Aber die "Twilight-Filme" waren immer am besten, wenn sie abseits der infantilen Action wahrhaftigen Teenager-Weltschmerz zeigten. "Breaking Dawn" geht dabei aufs Ganze. Sexuelle Paranoia und ins psychotische driftende Sehnsucht vermischen sich stellenweise zu einem emotionalen Delirium. Das bei all dem Pathos und überlebensgroßen Drama auch Momente der (freiwilligen und unfreiwilligen) Komik aufblitzen, verdankt sich der Drehbuchautorin Melissa Rosenberg, auf deren Konto auch die brilliante TV-Serie "Dexter" geht.
Ein Fest der Widersprüchlichkeiten, voller Tränen und - endlich - Blut. Seit dem ersten Teil hat man jedenfalls mit Kristen Stewart & Co. nicht mehr so mitgefiebert. Sogar abklärte Kritiker mutierten bei der Pressevorführung zu 14-jährigen Mädchen. Hey, this time you can count me in.