Erstellt am: 25. 11. 2011 - 11:08 Uhr
To The Tower, He Came
"The man in black fled across the desert, and the gunslinger followed"
("The Gunslinger", 1982)
Diese Worte formen einen der gewaltigsten Sätze am Beginn einer der wohl wichtigsten Geschichten der modernen amerikanischen Literatur der letzten dreißig Jahre. Dieser Satz ist in seiner Einfachheit und Wucht so ausgereift, dass er Protagonist, dessen Widersacher und das Setting mit ein paar wenigen, wohl ausgesuchten Worten einführt. Stephen King hat diesen Satz kurz nach seinem Abschluss an der Universität in Maine im Jahr 1970 niedergeschrieben, eine Zeit, in der er zwar schon einige Manuskripte vervollständigt, aber noch keines veröffentlicht hatte. Stark beeinflusst von Tolkiens "Lord of the Rings" und den Spaghetti-Western der 70er Jahre hat King die wilde Idee eines Mash-Ups, aber noch mehr: Einer allumfassenden Geschichte, für die er dreißig Jahre benötigte, um sie annähernd zu vervollständigen. Sie alleinig unter dem bröckelnden Genre-Begriff "Fantasy" abzutun, ist eigentlich ein Hohn: Diese Geschichte bedient weitaus mehr, sie ist ein Meisterwerk des Erzählens und kann es mit großen Werken der US-Literatur von Hemingway bis Twain aufnehmen. Und am Beginn steht: "Der Mann in Schwarz floh durch die Wüste und der Revolvermann folgte ihm." und eröffnet "The Gunslinger", den ersten Teil einer Romanreihe, die bis dato sieben Teile zählt: "The Dark Tower".
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The Long Journey To The Tower
- My Fantasy Kingdom: Die Fantasywoche auf FM4
Eines vorweg: Die folgenden Zeilen sind mein persönliches Tribut an diese Werke, die mich selbst maßgeblich beeindruckt und beeinflusst haben. Es ist keine Inhaltsangabe oder Zusammenfassung, einerseits weil diese Geschichte in naher Zukunft wieder eine Masse interessieren könnte (mehr dazu später), andererseits weil es schlicht unmöglich ist, diese insgesamt rund 7000 Seiten und all ihre Querverweise und das damit eigens eingeführte Vokabular in ein paar Absätzen zu schildern. Einsteigern empfehle ich als Sekundärliteratur die beiden Enzyklopädien von Robin Furth und das großartige "The Road to the Dark Tower" von Bev Vincent.
Wenn es doch ein paar Sätze zum Inhalt sein müssen: Zentrum der Geschichte ist Roland Deschain, ein Revolvermann, der letzte seiner Art. Er befindet sich auf einer Reise zum Turm, dort wo sich die Welten treffen. Noch ahnt der Leser nicht, was das bedeutet, aber auf seiner Reise muss Roland den Mann in Schwarz töten, jedoch ist dieser nur die rechte Hand des wahren Bösen, des Scharlachroten Königs, der aber erst geboren werden muss. Roland baut auf seiner Reise einen Gruppe Vertrauter um sich auf, das sogenannte Ka-Tet, bestehend aus Menschen, die er teils aus anderen Welten, die unserer sehr ähnlich sind, zu sich holt. Erst mit Fortdauer der Geschichte merkt man, dass Roland selbst ein Getriebener ist, weit weg von einem klassischen Helden. Und das Ende der Romanreihe? Keine Angst, kein Spoiler: Aber genial. Genialer als alles.
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Das Besondere an diesen sieben Teilen ist ihre epische Breite und emotionale Tiefe. Es gibt viele großartige Autoren und Autorinnen, aber King ist als Geschichtenerzähler eine Klasse für sich. Und er tobt sich hier wahrlich aus, konstruiert praktisch ein Zentrum seines eigenen künstlerischen Schaffens. Man muss sich vorstellen: Anfang der 80er erscheint der erste Teil, es folgen Teil 2 ("The Drawing of the Three") und Teil 3 ("The Waste Lands") und dann ist lange Schluss. Während die Fangemeinde Kings um eine Vervollständigung des Zyklus bettelt, traut sich King an sein eigenes Werk nicht mehr heran. Und so dauert es insgesamt noch einmal 13 Jahre bis King die letzten vier Teile vorlegt. Und diesen zeitlichen Unterschied zwischen 1-3 und 4-7 spürt man beim Lesen: Die ersten Teile sind schwer zugängliche, surreal geprägte Traumliteratur, immer wieder durch Verweise auf die US-Literatur ergänzt, z.B. "The Waste Land" von T.S.Eliot oder dem Gedicht von Robert Browning, das wohl am ehesten als Inspirationsquelle dieser Romane diente: "Childe Rowland To The Dark Tower Came". Die Bände 4-7 wiederum sind vom alten King geschrieben, einem, der mit "It", "Pet Semetary", "Shining", "The Green Mile" u.v.a. Welterfolge feierte und die restlichen Bände für ein Massenpublikum weitaus zugänglicher verfasst hat. Band 1 sah er wohl selbst als so schwierig an, dass er ihn 2001 überarbeitete. Alles in allem ist "The Dark Tower" ein Einblick in die eigene Entstehungsgeschichte und wohl gerade durch seine gelegentliche Langatmigkeit und sein etwas unrundes Auftreten dramaturgisch so großartig.
Magnum Opus
Hinzu kommt, dass "The Dark Tower" ein Sammelbecken an Intertextualität ist. Die Poststrukturalisten Julia Kristeva und Michel Bachtin hätten ihre helle Freude, denn wenn es so etwas wie einen "Ur-Text" gibt, also einen Text, der alle anderen Texte in sich trägt, dann ist es dieser. Literatur, Filme, Musik, Bildende Kunst, Popkultur: Die sieben Bände sind voller Verweise, Zitate, Anspielungen. Wenn Roland auf einem seiner Zwischenstopps fast eine ganze Stadt ausrotten musste und die Leichen betrachtet, die er zurücklassen muss, während ihm der Staub ins Gesicht weht - allein und verlassen von seiner Liebe Susan, die er nie wieder umarmen wird - dann erklingt zum Beispiel aus der Ferne der Refrain von "Hey Jude" von den Beatles. So schön kann Literatur sein.
Hinzu kommt, dass King Figuren seiner eigenen Werke in die Welten des Dunklen Turms einwebt, z.B. von "The Stand", "Insomnia", "Salem's Lot", "The Talisman" und am offensichtlichsten "The Eyes of the Dragon", dem wohl einzig wirklichen Ausflug Kings in die Fantasy-Literatur und eines seiner unterschätztesten Werke. Im Mittelpunkt steht der Zauberer Flagg, wie man später herausfindet, ein anderer Name für den Mann in Schwarz. Die Intertextualitätswucht macht auch nicht vor seiner eigenen Person Halt: Stephen King schreibt sich selbst als Autor Stephen King in die späteren Teile ein. Für viele ein etwas einfältiger Schachzug, in meinen Augen ein cleverer und zutiefst emotionaler Wink darauf, dass Fiktion sich immer ein Stück an der Realität orientiert, diese aber nie kopieren kann.
Als 2004 der letzte Teil erscheint, hat die Geschichte ihr logisches Ende gefunden. Die Jahre danach sind geprägt von Comic-Adaption von Marvel Comics, sichtlich bemüht die Geschichten Rolands und seines Ka-Tets um Vorgeschichten und Hintergrunddetails zu bereichern. Auch der Autor selbst traut sich nicht das Ende anzutasten, und das obwohl 2012 der lang angekündigte achte Band der Reihe erscheinen wird: "The Wind Through The Keyhole". Er reiht sich zeitlich etwa zwischen den Teilen 3 und 4 ein und wird die Liebesgeschichte von Roland zu Susan Delgado ausführen.
Marvel Comics
Und dann gibt es ja noch die Verfilmung. Film-Junkies haben die Kontroverse um das große "Dark Tower"-Projekt sicherlich mitbekommen: J.J.Abrams wollte sich dem Mammut-Projekt eigentlich annehmen, zog dann doch zugunsten "Super 8" zurück. Und nun ist es Ron Howard, der aus den sieben Teilen drei Kinofilme und zwischen den Filmen eine ergänzende TV-Serie machen will. Man kann von Howard, wie ich, nur wenig halten, die Idee ist aber an sich revolutionär: Kino und Fernsehen mit den selben Schauspielern zu verknüpfen und daraus ein neues dramaturgisches Erlebnis zu erzeugen, ist an sich eine großartige Idee. Javier Bardem als (eher unglückliche) Besetzung Rolands hat bereits zugesagt. Das intermedial anspruchsvolle Projekt mitsamt seinen Kosten schreckte die Universal Studios aber ab, nun wird eine neue Produktionsfirma gesucht und das Projekt liegt vorerst auf Eis. Man munkelt, dass Warner Brothers nach dem Ende der "Harry Potter"-Reihe nach einem neuen Projekt sucht. 2013 ist angepeilt.
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So oder so: In den nächsten Jahren ist zu vermuten, dass "The Dark Tower" einen ziemlichen Boom erleben wird, zumindest, dass daraus mehr wird, als das beste Werk des Autors für King-Fans. Einen ähnlichen Erfolg wie "Herr der Ringe" oder "Harry Potter" wird "The Dark Tower" aber nie erreichen: Dafür ist das Werk zu sperrig, zu verwoben mit anderen Texten, zu sehr in einer Grauzone, die sich einem eindeutigen Schwarz-Weiß-Denken widersetzt. Eine junge Generation wird es nicht begeistern. Aber wie heißt es in den Bänden: "But there are other worlds than these".
Und all jenen, die jetzt Blut geleckt haben, sei diese Reihe von ganzem Herzen empfohlen. Beginnt bei "The Gunslinger", kämpft euch durch und kippt spätestens bei Band 5 "Wolves of the Calla" total rein und weint mit mir bei Band 7. It's a hell of ride, I promise you that.