Erstellt am: 27. 11. 2011 - 07:00 Uhr
Historie im red light district
Once upon a time in the 1990ies, in einem Favoritner Viertel im südlichen Wien. Eine junge Frau, die während ihres Geschichtestudiums auszog, um den Norden Deutschlands zu erobern, oder so ähnlich. Die Historikerin Eva Decker tauschte den spröden Charme des Viktor-Adler-Marktes mit all seinem grantigen Multikulti-Charme gegen Wind, Hafen und Reeperbahn.
st.paulimuseum
Die Geschichtsschreibung letzterer gestaltet sie heute als Kuratorin des St.Paulimuseum mit. Gemeinsam mit KollegInnen versucht sie zu sammeln, zu ordnen und rote Fäden zwischen den vielen kleinen und großen Geschichten zu legen. Auf engstem Raum tummeln sich Gegenstände, Fotos, Kurzfilme über all die Menschen, die das Vergnügungsviertel mitgeprägt haben.
st.paulimuseum
Das historische Winkerl
Untergebracht an einer Ecke mitten auf der Reeperbahn, kann das St. Pauli Museum fast übersehen werden. Während der Öffnungszeiten untertags nicht gerade auf der Einzugsschneise der Horden von Busreisenden aus aller Welt gelegen; des Nächtens, wenn das laute Leben des Amüsierviertels stattfindet, bleibt die Tür geschlossen. Fast schon, als ob es nicht teilnehmen will, sondern geduldig wartet auf das am Morgen Vergangene.
Mittendrin, aber nicht dabei. Wartend auf die Erzählung, nicht begierig die intensiven Momente des lauten Nachtlebens mitzuerleben, sondern sie aufbereitet nacherzählen zu dürfen. In Form von Fotografien der letzten Jahrzehnte, Objekten aller Art und bewegten Bildern. Der Fokus liegt auf einer chronologischen Aufbereitung der Geschichte des Stadtviertels St. Pauli vom Mittelalter bis in die Gegenwart, wobei der Großteil klarerweise den letzten Jahrzehnten gewidmet ist.
eva decker
Kein Fussball und wenig Platz
Nach einer Führung von Eva Decker durch das Museum wird klar, dass es an einem sicherlich mangelt: Platz. Das Museum basiert ursprünglich auf einer kleinen privaten Sammlung und mittlerweile bringen die Anrainer selbst Dinge vorbei, die sie aufbewahrt und hergezeigt werden sollen. So betrachtet, arbeitet man in einem durchschnittlichen Bezirksmuseum mit motivierter Umgebung. Der Unterschied liegt eben darin, wodurch das Leben im Viertel bestimmt wird. Nicht alles ist für das Museum tatsächlich repräsentativ und es gibt zwei Aspekte des Lebens in St. Pauli, die im Museum keinen Platz haben: Fußball und Alkohol. Letzteres ist klar, Belege für Saufereien sind meistens nicht nur grauslich, sie machen die Abgebildeten auch selten schöner als sie sind. Der Fußballverein hat schon ein Museum und ist laut Eva Decker so stark vertreten, dass er keinen separaten Platz mehr braucht.
st.pauli museum
So erzählen die Objekte und Bilder der letzten Jahrzehnte vor allem von den Persönlichkeiten, aber auch Lokalen des Kiez. Thematisiert wird zum Beispiel das abgebrannte Salambo, eine Art Sex-Theater, von dem Handschellen, Schuhe und auch Filmaufnahmen existieren. Oder auch eine der berühmtesten Frauen St. Paulis, Domenica Niehoff.
st.paulimuseum
Der vor zwei Jahren verstorbenen Ex-Prostituierten war eine eigene Ausstellung gewidmet, die in unzähligen Fotos von ihrem Lebensweg, von ihrem Kampf für die Rechte ihres Berufes, genauso wie von ihren Alltag als Prostituierte und Liebling der Seitenblickegesellschaft erzählte. Besonders berührend gezeigt wird ihr Tod in totaler Verarmung, vergessen von all den Lagerfelds und Thurn und Taxis, die sich in den 1980ern gerne mit ihr ablichten ließen.
Erotik und Fakten
Erstaunlich, wie viele Geschichten sich auf so kleinem Platz tummeln können, ohne an Spannung zu verlieren oder einem in ihrer Fülle zu überfordern. Liebevoll arrangiert in den Räumlichkeiten, wobei es einen durch Vorhang getrennten Raum der Erotik gibt. Der Grat zwischen Voyeurismus, Porno einerseits und trockenen Fakten andererseits ist schmal, aber dieser Balanceakt wird hier gemeistert.
Ein heißer Tipp für das Tageslicht in einem Viertel, in dem man sich des Nächtens in dem Wirrwarr an Leben verlieren kann. Um die Geschichten am Tag wieder zu finden.