Erstellt am: 18. 11. 2011 - 10:54 Uhr
"Sie haben mich ständig provoziert"
Text: Ronny Blaschke
Foto: Radmila Mladenova
Die Langfassung dieses Artikels findet sich in der aktuellen Printausgabe des ballesterer.fm.
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des ballesterer.fm
Ende der 1980er Jahre sagten Fußballexperten Istvan Pisont eine große Karriere voraus. Pisont, gerade volljährig geworden, war damals für Honved Budapest aktiv. Er war angesehen – bis er sich in einem Interview zu seinen Wurzeln und seiner Minderheit bekannte. Seine Familie war stolz auf ihn, doch tausende Fans lehnen ihn seither ab. Für sie ist er ein Mann ohne Namen. "Als die Fans erfahren haben, dass ich ein Rom bin, haben sie mich als Zigeuner beschimpft", sagt Istvan Pisont heute. "Zigeuner, Zigeuner, Zigeuner, immer wieder. Das hat mich sehr verletzt. Ständig haben sie mich provoziert: Ich sollte schlecht spielen, aggressiv reagieren und meine Konzentration verlieren."
Einer von 500.000

Katja Lenz/kl
Istvan Pisont ist 41 Jahre alt, seine Laufbahn als Profikicker ist zu Ende. Pisont sitzt in einem Restaurant im Südosten von Budapest. Er ist ein freundlicher Mann von gedrungener Statur, trägt einen grauen Anzug, sein schwarzes Haar ist lichter geworden. Während des Interviews scheint er durch seinen Gesprächspartner hindurchzuschauen. In seinen Erinnerungen dominiert die Angst. Gegenspieler haben ihm den Handschlag verweigert und ihm ins Gesicht gelacht. »Ich bin der einzige Spieler, der sich in Ungarn zu den Roma bekannt hat – und das in mehr als 20 Jahren. Aber natürlich gibt es viel mehr Spieler, die unserer Minderheit angehören. Sie würden es jedoch nie zugeben. Weil sie dann noch länger und härter trainieren müssten als ihre Mitspieler. Nur, um auch als Menschen akzeptiert zu werden.«
Istvan Pisont wurde als Exot abgestempelt, doch er ist keiner. Niemand weiß, wie viele Roma in Ungarn leben, Schätzungen reichen von 500.000 bis zu einer Million, fünf bis zehn Prozent der Bevölkerung. Als Fußballer hatte Pisont die Ablehnung durch die Anhänger mit Fleiß wettgemacht. Er stieg zum Nationalspieler auf, bestritt 31 Länderspiele. Kickte im Ausland, in Belgien, Israel, Ende der 1990er Jahre bei Eintracht Frankfurt. Seine Prominenz war ein Schutzschild, doch Pisont ist eine Ausnahme. Ob im Sport oder in der Politik, in der Kultur oder in der Wissenschaft – Roma schaffen es selten an die Spitze. Horst Ehrmantraut, sein Trainer in Frankfurt, hatte Pisont einmal gesagt: »Zieh dich nie zurück, sonst bist du isoliert. Lern Sprachen und misch dich ein.« Pisont hat den Rat befolgt und beim Ungarischen Fußballverband im Nachwuchs eine Trainerlaufbahn begonnen. Es ist nicht lange her, da wollte er eine Akademie für Roma gründen, doch die Idee hat er verworfen. Schließlich wären sie wieder unter sich geblieben.
"Zick, zack, Zigeunerpack"
Roma ist der Oberbegriff für ethnisch miteinander verwandte Volksgruppen, ins Deutsche übersetzt heißt Roma einfach Mensch. Seit der Osterweiterung der EU bilden die Roma mit rund zehn Millionen Angehörigen die größte Minderheit der Union. Ihre größte Untergruppe in Mitteleuropa sind die Sinti. Ihre Lebensbedingungen sind auf niedrigem Niveau. In Italien ließ Ministerpräsident Silvio Berlusconi sie registrieren, in Frankreich ordnete Staatschef Nicolas Sarkozy eine Massenabschiebung an. In Ungarn, Tschechien, Bulgarien werden Roma regelmäßig Opfer von Anschlägen. Laut einer Umfrage von 2008 würden sich die meisten Europäer bei dem Gedanken unwohl fühlen, Roma als Nachbarn zu haben. Seit Jahrhunderten müssen sie als Sündenböcke herhalten, leiden unter Pogromen, Vertreibung, Vernichtung. Sie kämpfen mit Vorurteilen, die sie als faule und kriminelle Vagabunden beschreiben, im Grunde seit sie ab dem 14. Jahrhundert aus Indien Richtung Westen gezogen sind. Über keine andere Volksgruppe wissen die Gesellschaften so wenig – und glauben so viel Negatives zu kennen.
"In Osteuropa werden Roma-Kinder Sonderschulen zugewiesen", sagt der Historiker und Sportwissenschaftler Diethelm Blecking, der sich als einziger deutscher Wissenschaftler intensiv mit Antiziganismus im Fußball, der rassistischen Ablehnung von Roma in den Stadien, beschäftigt hat. In der Anonymität der Kurve lassen Fans ihrem Frust freien Lauf. Der Begriff »Zigeuner« ist für viele ein gängiges Schimpfwort. Die Minderheit selbst hat sich nie als Zigeuner beschrieben, "Zick, zack, Zigeunerpack" gehört dennoch für viele Fans zum Gesangsrepertoire. "Der Antiziganismus gleicht dem Antisemitismus", sagt Diethelm Blecking. "Wenn man jemanden treffen will, beschimpft man ihn als Juden oder Zigeuner. Die Diskriminierung hat sich abgelöst von historischen und soziologischen Fakten. Es ist das Unverstandene, das man als schlecht stigmatisiert. Und dieses Unverstandene fließt in die Begriffe des Juden und des Zigeuners ein."
Antiziganismus im Fußball wird von Wissenschaft und Journalismus kaum erforscht. Erst das Bündnis aktiver Fußballfans (BAFF) recherchierte für seine Wanderausstellung "Tatort Stadion" antiziganistische Vorfälle und dokumentierte sie auf Schautafeln. 2003 zeigten Fans von Dinamo Bukarest im Spiel gegen den Stadtrivalen Rapid ein Banner mit der Aufschrift: "Eine Million Krähen – Eine Lösung: Antonescu." Krähen ist ein rumänisches Schimpfwort für Roma. Unter dem Diktator Ion Antonescu waren während des Zweiten Weltkriegs mehr als 200.000 Roma ermordet worden. 2005 reckten Ultras des VfB Stuttgart ein Banner in die Luft, auf dem stand: "Lieber Neuner als Zigeuner". Zuvor war den Fans vorgehalten worden, mit Kleinbussen zu reisen, die nur neun Sitze haben, da sie nicht genug Fans für einen größeren Bus mobilisieren könnten. Zwei Jahre später zeigten Fans des SV Wilhelmshaven im Spiel gegen den VfB Oldenburg ein Transparent mit der Aufschrift: "Den Zigeunern aufs Maul". Die Ausstellung "Tatort Stadion 2" tourt seit eineinhalb Jahren durch Deutschland, ab dem 25. November gibt sie ein Gastspiel in Innsbruck.
Keine Beachtung vom Verband
Auch in der Empfangshalle des Malteser-Hilfsdienstes im Nordosten von Budapest zeigt eine Ausstellung den Alltag der Roma. Woanders sei eine solche Ausstellung in Ungarn kaum durchzusetzen, sagt Imre Kozma. Der Priester ist bekannt dafür, dass er sich zu politischen Themen äußert und Projekte vorantreibt. Im August 1989 hatte Kozma tausende DDR-Flüchtlinge auf dem Gelände der Malteser in Zelten untergebracht. Nach dem Kalten Krieg setzte er sich für die Verlierer des Umbruchs ein: für die Roma. Er half beim Aufbau einer Fußballmannschaft, kümmert sich als Seelsorger um die Spieler. "Im Fußball können die Burschen Selbstbewusstsein gewinnen", sagt Pater Kozma. "Unsere Spieler wollen arbeiten und erfolgreich sein. Auf dem Spielfeld erhalten sie eine Chance, überall sonst wird ihnen diese Chance verweigert. Leider erhalten wir so gut wie keine Unterstützung."

Radmila Mladenova
Imre Kozma ist 71 Jahre alt, er trägt einen schwarzen Pullover über einem weißen Hemd, die Worte scheinen ihm nie auszugehen. Dutzende Fakten hat er parat: Rund 80 Prozent der ungarischen Roma seien arbeitslos, mehr als die Hälfte der Jugendlichen bleibe ohne Schulabschluss, nur ein Prozent mache Matura, die Mehrheit sei auf Sozialhilfe angewiesen. "Der Fußball hilft mir, ihnen zu helfen", sagt Kozma. Während einer Trainingseinheit ruft er Spieler zu sich, nimmt sie an den Schultern, redet ihnen gut zu. 60 Kicker gehören zum Kader. Die meisten können sich das Busticket zum Trainingsplatz nicht leisten. Diejenigen, die gekommen sind, sind von körperlicher Arbeit gezeichnet. Falten haben sich in ihre Gesichter gegraben, sie sind schlecht ernährt, haben kaum Zähne. Doch auf dem Rasen scheinen sie vieles um sich herum zu vergessen. Pater Kozma kümmert sich auch um ihre Familien: "Der Fußballverband beachtet uns nicht. Er bezeichnet unser Team als Minderheitenmannschaft, von Roma ist keine Rede. Das macht uns traurig, weil es Klischees verfestigt."
Mehr über den Antiziganismus im Fußball, über kaum beachtete Zeichen des DFB und die Arbeit von FARE (Football Against Racism in Europe) gibts in der Printausgabe des aktuellen ballesterer.