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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

17. 11. 2011 - 17:25

Journal 2011. Eintrag 207.

Künftige Erinnerungskultur oder: der "Kalmar-Effekt".

2011 ist Journal-Jahr - wie schon 2003, 2005, 2007 und 2009. Das heißt: Ein täglicher Eintrag, der als Anregungs- und Denkfutter dienen soll, Fußball-Journal '11 inklusive.

Hier finden sich täglich Geschichten und/oder Analysen, die ich als passionierter Medien-Konsument selber gern gelesen/-sehen/-hört hätte, aber nirgendwo (oder nur unzureichend) finden konnte; und deshalb selber ausforschen und durchdenken muss.

Heute mit den scheinbar zeitlosen Gedanken des Lager-Literaten Rudolf Kalmar, dessen neuaufgelegtes Buch Zeit ohne Gnade gestern vorgestellt wurde; und was das mit dem Stein am Morzinplatz zu tun hat.

Rudolf Kalmar war ein sogenannter "politischer", er wurde aus rein ideologischen Gründen ins KZ deportiert. Kalmar war Redakteur beim liberalen Wiener Tag, ehe er '38 nach Mauthausen und später nach Dachau kam, wo er unter anderem mit dem Gefangenen-Stück Die Blutnacht auf dem Schreckenstein oder Ritter Adolars Brautfahrt und ihr grausiges Ende oder Die wahre Liebe ist das nicht seine ungebrochene Widerständigkeit demonstrierte. Nach dem Kriegsende (Straf-kompanie, Gefangen-schaft) veröffentlichte er seine Erinnerungen als Artikelserie in der Wiener Wochenausgabe - ehe es dann als Buch erschien. Später wurde Kalmar Chefredakteur der großen Qualitätsnachkriegs-Zeitung Neues Österreich Kalmar moderierte später den in den 60ern legendären Fernseh-Stammtisch der Chefredakteure und war zuletzt Präsident des Presseclubs Concordia.

Die Notwendigkeit von aktiver Erinnerungsarbeit ist angesichts aktueller Neonazi-Gewaltexzesse evident.

Ich finde, das hat was: als plus1 mitgehen zu Veranstaltungen, die eigentlich in jemand anderes Fokus stehen. Es bringt Ungeplantes, Überraschendes, Horizonterweiterndes.

Gestern hat mich meine Freundin Antonia mitgenommen, ins Innenministerium. Dort wurde ein Buch präsentiert, eine Wiederauflage eines 1946 erstveröffentlichten Beispiels von österreichischer Lager-Literatur: Zeit ohne Gnade von Rudolf Kalmar.
Antonia ist da Expertin (geworden) - zuerst ein Kunst(Foto)-Projekt, dann zunehmendes und schließlich auch wissenschaftliches Interesse am Umgang mit der Erinnerungs-Kultur der Konzentrationslager, vor allem literarisch.
Ich weiß, was alle wissen (sollten) und dass Jonathan Littell seine Protagonisten in "Die Wohlgesinnten" KL zum KZ sagen lässt, weil das die erste und urspüngliche Abkürzung für die Vernichtungslager war.

Nach der Buch-Präsentation folgte eine Diskussionsrunde von einigen Gedenkstättenverantwortlichen (Mauthausen, Dachau, Flossenbürg), die natürlich auch Fragen nach der Identität zwischen Wissensvermittlung, touristischer Beiläufigkeit, Umgang mit Gedenken u.ä. aufwarf.

Identitätssuche zwischen Tourismus und Biographisierung

Wohl deshalb lasen die beiden Herausgeber der Neuauflage auch einen Ausschnitt aus einem Artikel vor, den Rudolf Kalmar 1949 im Neuen Österreich geschrieben hatte, in dem er sich - hochpolemisch - gegen den Ungeist des damals schon gepflogenen Verdrängens einsetzte.

Um die Erinnerung an das ungeheuerliche Geschehen von Mauthausen wachzuhalten, damit sie als warnendes Licht über der österreichischen Zukunft stehe, schlagen wir vor: Grabt einen aus, irgend einen von den Hunderttausenden, die durch die Tötungsmühlen gingen, und bestattet ihn feierlich hier, inmitten der Stadt. Auf dem Stephansplatz, vor der Karlskirch, vor St. Peter am Graben. Zündet über seinen gemarteterten Gebeinen das ewige Feuer an und verkündet denen, die vorübergehen werden, weil sie vorübergehen müssen, dass hier eines der Opfer der Sünde gegen den Geist der Freiheit liegt.

Kalmar war also schon in den 40ern für eine Erinnerungs-Kultur, die sich nicht museal, schulausflugsüberfrachtet und touristisch vom echten Leben abkoppeln lässt, sondern für die direkte Konfrontation im öffentlichen Raum. Letztlich war das bereits ein Plädoyer für die Hrdlicka-Plastik vor der Albertina, deren Errichtung Jahrzehnte später für grellgesichtige Erregung sorgte - oder für die Berliner Stelen, die ebenfalls kontrovers debattiert wurde; allerdings nie die Pharisäerhaftigkeit der Wiener Debatte erreichte.

Das Stigma als Standortfaktor

Letztlich stößt Kalmar damit ins Zentrum des Problems: Wie vermittle ich das Unsag- und Undenkbare, die fabriksmäßige Vernichtungs-Maschinerie des Nazi-Terrors, die in Deutschland und Österreich erdacht und geplant wurde und deren Wurzeln und Sprösslinge heute noch (durchaus wirkungsmächtig) nachhallen?

Die mittlerweile wie Museen organisierten Gedenkstätten, egal ob das fälschlicherweise als österreichisches Einzelphänomen gehandelte Mauthausen oder die internationale Anlaufstelle Dachau, können da nur noch partielle Leistungen anbieten.

Sie sind vor allem nicht imstande, am in diesen Jahren eintretenden Paradigmen-Wechsel teilzunehmen: mit dem biologischen Verschwinden der Zeitzeugen wird nämlich auch die Biographisierung und die immer noch recht dominante Verwissenschaftlichung der Erinnerungs-Kultur ihre Vorrangstellung verlieren.

Was wichtiger wird: einerseits eine zunehmend komplexere Kontextualisierung und anderseits die Dramatisierung, besser noch, die Literarisierung.

Kontextualisierung und Literarisierung

Aus dem Kontext gerissen ist (für einige der nachfolgenden Generationen) nämlich die SS-Uniform, also das dominante Mittätertum, deutlich interessanter, sogar geiler als die Widerständigkeit. Und aus dem Kontext gerissen kann man sogar eine völkische Erweiterungs-Politik als neuen amerikanischen Traum interpretieren.

Wichtiger ist also die Sichtbarmachung des Kontextes der formelhaften Biederkeit und Supra-Verbeamtung der hauptsächlich am Schreibtisch entworfenen Nazi-Verbrechen gegen jede Form der Menschlichkeit; die Darstellung der vergebenen Chancen von individuellen wie auch von ganzen Gruppen versäumten Exit-Strategien; die Aufklärung über ökonomische Zusammenhänge innerhalb einer reinen Kriegs-Industrie uvam.

Dafür braucht es künftig (wenn sie nicht mehr am Leben sein werden) mehr als nur ein paar Zeitzeugen on tape. Dafür braucht es die Kraft der literarischen Umsetzung, egal in welchem Medium.

Bislang war das verpönt. Ein auch am Podium anwesender Zeitgeschichtler gestand etwa, dass er das 46er-Original von Zeit ohne Gnade vor Jahren angelesen, aber schnell wieder aus der Hand gelegt hätte, weil es die üblichen wissenschaftlichen Kriterien nicht erfüllt hatte. Eigentlich ein Witz.

Da die offizielle Erinnerungskultur aber von derart geprägten Wissenschaftlern angeführt und definiert wird, braucht es eine möglichst rasche Einsicht in die neue Vermittlungs-Politik.

Die Hölle am Wiener Morzinplatz

Nach dem offiziellen Teil ist uns mein alter Journalisten-Kollege Christian über den Weg gelaufen. Der hat vor einiger Zeit die Seiten gewechselt und ist jetzt freier Kurator; und er erzählte dann irgendwann, assoziativ, etwas über den Gedenkstein am Morzinplatz.

Dort, am Rande des Schwedenplatzes, direkt neben der Bushaltestelle für den Flughafenbus, befindet sich ein durchaus markantes Mahnmal , dessen Inschrift so beginnt: "Hier stand das Haus der Gestapo. Es war für die Bekenner Österreichs die Hölle."

Ich gehe da, wie sicher viele andere, oft vorbei, weil ich dort vorbeigehen muss (oder möchte). Und jedesmal wenn ich den Text streife, reißt's mich. Weil das etwas von der aufwühlenden literarischen Verve hat, an die wohl auch Kalmar gedacht hat - so pathetisch das klingt, er erzeugt ein Bild und lässt was klingen, innendrin in mir.

Der Christian hat dann von der absurden (sehr österreichischen) Geschichte des Steins erzählt: der ist weder das Original (er wurde in den 80ern neu gemacht) noch markiert sein Standort den des Gestapo-Hauses (das war gegenüber) - hier wurde, ganz verdrängerkulturmäßig, verschoben, vergessen, verniedlicht. Immerhin ist der neue Stein aus dem Steinbruch Mauthausen.

Drunter liegt kein tatsächliches "Opfer der Sünde gegen den Geist der Freiheit", wie das Kalmar wollte. Aber der Grenzstein, der den Eintritt zur Hölle markiert, hat für alle die lesen können, Kraft und Wucht genug. Als Unterbrecher des Alltags. Und diejenigen, die Bild und Raum brauchen, sind beim straßenwaschenden Juden am Albertinaplatz gut aufgehoben. Die sonntägliche Fahrrad-Tour nach Mauthausen irgendwann einmal allein genügt den künftigen Ansprüchen nämlich nicht mehr.