Erstellt am: 16. 11. 2011 - 17:02 Uhr
Fußball-Journal '11-128.
Bundesliga, Meisterschaft und der Cup, der ÖFB und das Nationalteam, das europäische Geschäft, der Nachwuchs und die vielen Irrsinnigkeiten im Umfeld: Das Fußball-Journal '11 begleitet wie 2010 auch das heurige Jahr wieder ungeschönt und ohne Rücksichtnahme auf Skandalisierungen und Stillhalte-Abkommen, die den heimischen Fußball-Journalismus so mutlos daherkommen lassen.
Heute mit einer einmal überschlafenen Betrachtung des ersten ÖFB-Länderspiels unter Marcel Koller.
Extra empfohlene Taktikanalysen:
die von laola1.at, die von 90minuten.at, die von abseits.at, die Standard.Situation und die von ballverliebt.eu.
Auch das deutsche Blog Spielverlagerung widmet sich Kollers Debut.
Die spontane Reaktion war gestern; und auch wenn sich einiges was man schon vor dem Spiel annehmen durfte dann auch bewahrheitete - es lohnt sich am Tag danach einen zweiten Blick auf das zu werfen, was gestern passiert ist.
Ich möchte das in drei Parts teilen:
- Strategie/System/Taktik
- Personal
- Umfeld
Die neue Spielanlage - nur für "Experten" nicht zu erkennen
Weil sich schon gestern und natürlich auch heute die sogenannten "Experten" (Prohaska, Krankl und Co.) und auch einige "Fach"-Journalisten innerhalb des Medien-Mainstreams auf ein lapidares "eh ka Unterschied zu vorher" einigen konnten, um so rückwirkend die letzten Jahre und ihre eigene Ignoranz zu rechtfertigen: das ist ein ausgemachter Schas.
Die Unterschiede sind evident.
Das ÖFB-Team ist unter Koller in eine europäische Normalität vorgestoßen, von der man bislang nur träumen konnte. Die Mannschaft wurde jetzt zumindest mit Tools ausgestattet, die es ihr ermöglichen einem Gegner mit einem gewissen Niveau durchgehend auf Augenhöhe gegenüberzustehen. Das war bislang, vor allem unter der Verheerung Constantini, nur per Zufall möglich.
Koller bringt endlich das nötige Gerüst, eine grundsätzliche Philosophie.
Das beginnt mit Banalitäten wie einer hochstehenden Abwehr, Innenverteidigern, die im Aufbau weit auseinanderstehen und so ihre Außenverteidiger vorschicken und setzt sich in einem überlegten Pressing-Konzept fort. Desweiteren ist das zentrale Mittelfeld endlich von steinzeitlichen Zuschreibungen wie dem "Aufräumen vor der Abwehr" befreit und hat die Lizenz zum Aufbau. Und zuguterletzt verlässt sich Koller nicht wie seine Vorgänger komplett aufs Flügelspiel, sondern besetzt auch das offensive Mittelfeld.
Das sind alles Dinge, die international keinen Hund hinterm Ofen hervorlocken, national aber bislang kaum beachtet wurden.
Dass die sogenannten Experten und die Reporter des Mainstreams derlei nicht erkennen (können), zeigt nur, wie hinterwäldlerisch die Situation Fußball-Österreichs ist.
Die Analyse-Aufgabe obliegt weiter den Netz-Portalen (wie 90minuten, laola1, abseits oder ballverliebt, die das Spiel mit klaren Worten und Skizzen (auch für Laien verständlich) aufdröseln - ein paar wenige Print-Ausnahmen bestätigen die Regel.
Das Kollersche System ist keineswegs das von Constantini nach der WM widerwillig installierte 4-2-3-1, sondern ein eher zum 4-4-1-1 tendierendes, in dem die hängende Spitze viel Arbeit im offensiven Mittelfeld zu verrichten hat - die sie sich mit dem 8-er, dem kreativeren der beiden zentralen Mittelfeldspieler, teilt. Damit soll eine monochrome Flügel/Flanken-Kultur vermieden werden. Trotzdem läuft weiter viel in diesem System über die Flügel-Pärchen, also Außenverteidiger und Außenstürmer.
Das System Koller denkt in Variantionsbreite.
Die Taktik, der Matchplan gegen die Ukrainer auswärts, war ein Testlauf gegen einen Gegner auf Augenhöhe, den man zu besiegen gewillt ist. Koller setzte auf die überlegende Technik seines Teams, das die bessere Physis der Ukraine über schnelles Passspiel knacken sollte. Mit der sehr hochstehenden Abwehr wollte er dem fast perfekten Mittelfeld-Riegel begegnen und die eigene Schwäche des international nicht konkurrenzfähigen Tempos umgehen.
Allein mit diesem ganz konkreten Ansatz, den vielen bewusst gesetzten Maßnahmen und der klaren Marschroute unterschied sich Koller um Kilometer von seinen österreichischen Kollegen (von denen maximal eine Handvoll seine "akribische" Vorbereitung erreicht).
Nun hat aber natürlich einiges nicht so geklappt wie es geplant war: die rechte Abwehrseite konnte weder offensiv noch defensiv entsprechen - weshalb auch die rechte Angriffseite lahmte. Außerdem klappte die Abstimmung zwischen dem 8-er und der hängenden Spitze nicht ganz, beide waren zu oft auf der linken Offensivseite zu finden.
Dass das Spiel letztlich aufgrund von mangelndem Selbstvertrauen (der einzigen Erklärung für eine Passungenauigkeit, die in den Vereinen nicht so krass ist) und leichten Schleifenlassens in der finalen Phase (trotz Überzahl!) verloren ging, ist ein Erbe der Vergangenheit - nicht der jüngeren, sondern der seit zwanzig, dreißig Jahren.
Die ÖFB-Teams haben sich so an das "So a Pech!"-Muster gewöhnt, das nach schlechten Leistungen von Trainern, Spielern und Verantwortlichen vorgeschützt wurde, dass sie (unbewusst) das Elend des Absturzes in der Schlussphase quasi selber suchen.
Was man Koller ankreiden muss: seine Abänderungs-Unwilligkeit im Spiel. Da knüpft er an die unseligen Vorgänger-Traditionen der Zögerlichkeit an.
In einem Testspiel nur einen Anzug zu testen, das ist echt zu schwach. Aber das führt mich gleich zum nächsten Kapitel:
Koller und seine Personal-Wahl
Man muss dem Neuen zugute halten, dass er seine Erfahrungen selber machen muss: Irgendjemand hätte ihn aber aufhalten müssen, Schiemer rechts hinten zu besetzen. Das fällt unter Selbstverständlichkeiten wie "auf die Herdplatte greifen" - das muss man nicht ausprobieren, um danach Sicherheit zu haben.
Mit Robert Almer ist Koller/Konrad ein Scoop gelungen. Zwar konnte der Ex-Austrianer die 1. Halbzeit über kaum einmal gerade ausschießen, was eher wenig zum konstruktiven Aufbau beitrug, gehalten hat er aber fast alles, was auf sein Tor kam. Fehler wie das Abwehren ins Zentrum teilt er mit all seinen Kollegen.
Alle anderen Positionen wurden mit den bestmöglich zur Verfügung stehenden Akteuren besetzt - auch das ist ein unendlicher Fortschritt zum "Die Richtigen statt die Besten"-Unfug von Hickersberger und der unsteten Sympathie-Lotterie der Constantini-Ära.
Problematisch ist in diesem Zusammenhang nur, dass in diesem Test nicht viel getestet wurde.
Etwa, wie sich Junuzovic statt Arnautovic hinter Janko getan hätte oder wie Dragovic mit Pogatetz harmoniert. Auch Kavlak hätte deutlich früher kommen und so noch ins Spiel finden können. Von High Risk-Varianten wie Ivanschitz im Zentrum oder einer zweiten Rolle für Alaba erst gar nicht zu reden.
Entsprechende Erkenntnisse wird Koller nämlich nicht in den kaum noch anstehenden Trainingslagern 2012, auch nicht bei Clubspielen seiner Kandidaten bekommen - die muss er in den Tests aktiv angehen.
Mit Scharner, Dag, Garics, dem einen oder anderen Austrianer oder Sturm-Spieler, einem Leitgeb, dem vielleicht der Knopf aufgeht und ein paar aktuell verletzten Tormännern kommen ein paar, aber nicht unendlich viele potentielle Akteure dazu. Die Bandbreite bleibt also durchaus überschaubar. Auch wenn sich Koller im nächsten Jahr problemlos bei der U21 bedienen kann.
Deren EM-Quali-Out hat er durch seine wenig sensible Nominierungs-Politik ja mitverschuldet.
Koller und die neue Kommunikations-Politik
Tausend und eins.
Der Einzug des 21. Jahrhunderts manifestierte sich im Vor- und Umfeld des Ukraine-Spiels in jeder Kleinigkeit: von der kleinsten Presseaussendung bis zur Begründung bei Personalfragen im Team.
Das Schweizerisch-Korrekt-Seriöse, das Koller seine innere Stabilität gibt, tut dem versumpft-hintherum-verpackelten ÖFB-Unwesen extrem gut. Koller stellte sofort nach seinem Antritt Anfang des Monats die potentiellen Gegner, die Boulevard- und Mainstream-Medien zufrieden, bestätigte gefühlte und tatsächliche Übereinkünfte, und weitete das Betätigungsfeld der Teamchef-Verantwortung gleichzeitig massiv aus.
Das Erstaunen all jener, mit denen Koller in diesen paar Wochen Kontakt aufnahm, über die schiere Tatsache und dann auch die Qualität der Begegnungen spricht Bände und verortet die historische Rolle die Constantini-Ära endgültig im ranzigen Hausmeistertum.
Natürlich schießt das Facebook keine Tore. Seine Benutzung erweitert aber Kollers Möglichkeiten - genauso wie seine Herangehensweise in allen anderen Bereichen abseits des Platzes.
Koller und die Notwendigkeiten für 2012:
... einen g'scheiten Rahmenterminplan für die WM-Qualifikation machen.
... sich mehr als nur die zwei Spieltermine im Februar und Juni erkämpfen, ein Trainingslager müsst das schon sein.
... mehr Einfluss auf die Individual-Trainingsarbeit bei den österreichischen Vereinen nehmen.
... keine alten Fehler aufwärmen.
... sich dringend etwas in punkto Außenverteidiger überlegen.
... Zögerlichkeit und Risikoarmut in einen Spind sperren und dort vergessen.