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Sammy Khamis

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17. 11. 2011 - 06:02

Paolo Pellegrin: Retrospektive ins kollektive Gedächtnis

Einem der wichtigsten Krisenfotographen unserer Zeit, Paolo Pellegrin, widmen sich zwei Ausstellungen in München und Innsbruck. Er lichtet die Konflikte der Welt in schwarz-weiß ab, ohne sie bloß widerzugeben.

Paolo Pellegrin, geboren 1964 in Rom. Zahlreiche Preise bekam er für seine Arbeit in den Krisengebieten des Balkans in den 1990ern. Seit 2005 ist Pellegrin Vollmitglied bei Magnum.

Eine Gruppe Männer. Körniges schwarz-weiß. Starke Kontraste. Er blickt rechts am Betrachter, also auch am Fotografen vorbei in eine ungewisse Ferne. Den linken Arm ausgestreckt. Fordernd, rufend, mahnend. Er trägt kein Hemd. Der Mann überragt die anderen, ist das Zentrum des Bildes. Die Szene wirkt dramatisch. Rauchschwaden verschleiern den Blick auf einen nicht sichtbaren Hintergrund. Man ahnt bereits: Der Rauch stammt von einer Bombe, einem Anschlag, einer Katastrophe. Der rechte Arm des Unbekannten in der Mitte stützt einen Verletzten.

Libanon, Gruppe von Verletzten

© Paolo Pellegrin / Magnum Photos

© Paolo Pellegrin / Magnum Photos

Nun versteht man: Ein Anschlag, ein Verletzter, ein Helfer. Und doch impliziert und kommuniziert das Foto mehr. Der „Helfer“ ist umgeben von einer Wolke aus weißen Rauch. Er wird eingerahmt von einer Aura. Verzweiflung, Not, aber auch Zuversicht und Mut sprechen aus seinen weit geöffneten Augen. So sieht Pellegrin den Libanon-Krieg 2006.

Die Pflicht zur aufklärenden Darstellung

Die Retrospektive des Künstlers, der wöchentlich eines seiner Werke im Zeit Magazin veröffentlicht, ist im Kunstfoyer der Bayerischen Versicherungskammer, Maximilianstr. 53 in München zu sehen. Eintritt frei. Die Ausstellung läuft bis 14. 12. 2012

Ich befinde mich im Kunstfoyer der bayerischen Versicherungskammer in München. Dem Magnum Fotografen Paolo Pellegrin wird hier eine Arena bereitet. Er füllt sie mit dem Leid der Erde. Schwarze Wände, auf denen die 58 Abzüge seiner Reportagen hängen. Riesig, schwarz-weiß und übervoll an Bedeutung. 58 Motive sowie eine 12 Meter lange Collage von Aufnahmen aus dem japanischen Tsunamigebiet von diesem Frühjahr. Fotos aus unserer Welt, von unserem Planeten und unseren Realitäten.

Japan nach dem Tsunami

© Paolo Pellegrin / Magnum Photos

Japan nach dem Tsunami © Paolo Pellegrin / Magnum Photos

Dass diese Realitäten unsere Krisen sind, wird bei jedem einzelnen Foto deutlich. Sie sprechen eine verständliche, subtile aber auch verstörende Sprache: Ein Berg aus schlammbedeckten Körpern, aufgehäuft vom Tsunami 2004 in Indonesien, werden sie in Pellegrins Aufnahme von einem Bulldozer in ein Massengrab geschoben. Es heißt, ein Begräbnis weist den Toten einen Platz unter den Lebenden. Ein Massengrab impliziert kein solches Begräbnis. Wie der Bulldozer schiebt der Fotograph diese Szene in unseren Alltag, und weißt den Opfern damit einen Platz in unserem Leben, unserem kollektiven Gedächtnis.

Ausstellung Paolo Pellegrin im BTV FO.KU.S, Innsbruck

BTV

"Photographing death captures the dead I haven´t seen"

Zitat Paolo Pellegrin

Ich gehe weiter durch das Kunstfoyer. Kinder in Haiti. Sie tragen Waffen als Statussymbole des Mordens, der Macht über Leben und Tod zu entscheiden. Dabei erzählen sie aber auch die Geschichte von Verfolgung, Leid, Missbrauch. Pellegrin schafft es durch die Nähe zum Dargestellten die Fragen nach der Eindeutigkeit des Gesehenen (und des Geschehenen) neu zu formulieren. Ist ein Terrorist ein Terrorist, oder kann man ihn auch als Befreier denken? Ist eine Frau auf einem Markt in Tripolis (im Jahr 2002) eine einfache Hausfrau oder erzählt ihr Blick die Geschichte von Verfolgung und Unterdrückung von 30 Jahren Gaddafi? Ist ein verhungerndes Kind Opfer einer nationalen Dürrekatastrophe oder einer Verkettung globaler Prozesse?

Zwischen Tagebuch und Anklageschrift

Bildunterschrift Pelelgrins

Die Ausstellung „Flowers“ im FO.KU.S (Foto Kunst Stadtforum) in Innsbruck der Arbeit Pellegrins. Am 17. November eröffnet diese und läuft bis 14.12.2012. Auch hier ist der Eintritt frei.

Pellegrin ist Künstler. Politischer Künstler. Seine Bilder sind Ausschnitte einer erlebten Realität. Ausschnitte einer Erfahrung. Simplifiziert und pointiert durch das Schwarz-Weiße, durch Komposition und Nachbearbeitung. Pellegrins Fotografie ist dabei ein künstlerisches und kulturelles Produkt. Wie Sprache. Durch Intonation, Wortwahl und Semantik ergibt sich eine Differenz zwischen Information und Intention. Fotografie bekommt eine politische, soziale und emotionale Stimme. Sie bildet Realität ab, erschafft sie, transformiert sie in etwas Persönliches.

Mit Hilfe von Unschärfe, verwackelten Einstellungen und erdrückender Suggestivkraft entsteht ein Gefühl von Nähe, Bedrohlichkeit und Ungewissheit in dieser Ausstellung. Man findet sich zwischen der Gewissheit wider, dass das dargestellte wahr sein muss, und dass es doch nur ein Ausschnitt einer Realität ist. Aber auch wenn Wahrheit nur das bisschen Licht ist, das auf einen Film fällt, ist sie Wahrheit; unsere Wahrheit.